Göttin sei Dankin

Schon vor einigen Wochen habe ich mir vorgenommen, einen weiteren kleinen Satirebeitrag zum Thema Gendersprache zu formulieren. Das lasse ich aber und schreibe nur mit einem bißchen Augenzwinkern. Da war der Anlaß der, daß die beste Ehefrau aller Zeiten mich auf eine Studie aufmerksam machte, die nicht nur genderbrav Studie_in usw. schrieb, sondern statt „man“ auch „mensch“.

Nur wenige werden sich an ihren Grammatikunterricht aus der siebten Klasse zurückerinnern und noch weniger werden es gern tun. Die werden dann wohl auch Linguistik studiert haben.

„man“ ist ein Indefinitpronomen das vollkommen geschlechtsneutral ist und eine unbestimmte (Daher „Indefinit-„) Menge von Personen umschreibt; grammatikalisch ausgedrückt hat „man“ also weder Genus, Sexus noch Numerus. Wenn eine Gruppe von Frauenverbänden eine Meinung vertritt, dann kann mensch das auch so formulieren: „Man sagt unter ihnen, dass…“

Ein Indefinitpronomen meint normalerweise keinen Sexus, also kein Geschlecht. Ausnahmen davon sind lediglich manch/manche, kein/keine. irgendein/irgendeine sowie einer/eine. Es gibt sogar welche, die nur männliche und neutrale Genera kennen: irgendwas/irgendwer zum Beispiel. Da wird mit einem männlichen Genus auch nach einer Frau oder einem weiblichen Substantiv gefragt.

Sexus und Genus
Die meisten politischen Aktivisten, Aktivistinnen und Aktivist_ verwechseln jedoch Genus und Sexus. Petersilie ist im Genus weiblich, im Sexus aber trotzdem eine Sache. Wenn jemand „Der Kümmel“ schreibt, unterdrückt er nach wie vor keine Frau, sondern benutzt lediglich den korrekten Genus. Kümmel hat einfach keinen männlichen oder weiblichen Sexus, weil es eben ein Ding ist.

Die feministische Linguistik geht nun von der Theorie aus, daß gesellschaftliche Unterdrückung bereits mit der Sprache beginne. Hierbei geht es insbesondere um Berufsbezeichnungen, bei denen der Genus dem Sexus nicht angepasst wird. Also wenn man „Polizist“ schreibt, obwohl man eine Frau meint. Daher wird von der feministischen Linguistik gefordert, entweder Sexusneutrale Begriffe zu benutzen (beispielsweise durch Substantivierungen von Verben, also „Studierende“ statt „Studenten“) oder aber beide Geschlechter zu verwenden, was in verschiedenen Schreibweisen realisiert werden kann.
Behördlicherseits hat sich nach einer Weile und alleine schon um Platz zu sparen das große Binnen-I durchgesetzt, also statt „Liebe Studentinnen und Studenten“ eher „Liebe StudentInnen“. Nach einer gewissen Zeit setzte sich die Forderung nach dem Binnenunterstrich durch, die sogenannte Gender Gap. Der/die/das Gender Gap soll ein Mittel der sprachlichen Darstellung aller sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, auch jener abseits des Zweigeschlechtersystems sein. Im Deutschen wäre dies sonst nur durch Umschreibungen möglich. Man schreibt also insbesondere auf linken Netzseiten und Dokumenten nun „Liebe Student_innen“.

Menschenskind!
Die nun nächste Stufe dieser immer alberner werdenden Entwicklung fand ich heute Morgen in meinem Reader: Die Uni Leipzig setzt jetzt nur noch die weibliche Form ein und versichert via Fußnote, daß auch die männliche Form gemeint ist. Sie schreiben dort also nun „Herr Professorin“ und fußnoten drunter daß auch die männliche Form gemeint sein könnte…

[Hinweis in eigener Sache: Da bin ich auch auf die Presse reingefallen. Das ist nämlich Quatsch. Merke: Nutze nicht die Presse, nutze die Primärquelle. Mein Fehler.]

Verteidigt wird das von Frau Professorin Doktorin Friederike Maier. Sie sagt darüber aus, daß „viele die männliche Formulierung [nutzen] und machen eine Fußnote, dass auch Frauen gemeint sind. Ich fühle mich damit nicht mitgemeint.“ Das kombiniert sie in schöner Form mit dem Satz: „Es wäre jedoch schön, wenn das eine Diskussion auslöst, wie wir auch sprachlich wertschätzend miteinander umgehen sollten.“

Letztendlich macht sie den gleichen Fehler, den die meisten anderen feministischen Aktionen auch tun: Sie verbeißt sich im Falschen. Anstatt daß sie die Gleichberechtigung versucht zu erreichen, also beispielsweise gleicher Lohn für gleiche Arbeit, verbeißt sich die Genderwelt in Indefinitpronomen und ersetzt sprachliche Besonderheiten durch völligen Unsinn.

Wenn das sprachlich undefinierte „man“ nun also Frauen beleidigt (Vielleicht weil es optisch an das englische man erinnert, das aber auch blöder Weise Mensch heißt), schlage ich gerechtigkeitshalber vor, einfach alle Wörter in denen diese Buchstabenfolge vorkommt, anzupassen. Das klingt dann wohl so:

Wenn sich dann noch jemenschd darüber aufmenschdelt, daß mensch die Sprach_in nicht mehr verstehen kann, keine Rezept_innen mehr lesen kann weil der Menschdelkuchen nach Menschester Art nichtmal in der Isle of Mensch verstanden wird, der Student_in der Geschicht_in sich nur noch mit den Alemeschen befassen darf weil ansonsten jemenschd beleidigt sein würde, weil die menschliche Ausdrucksweise der Alemenschen ja irgendwie falsch sein muß wenn selbst der Verein Alemenschia Aachen nur noch Trikots und Trikotinnen bei Amenschi kauft und mensch Frauen und Frauinnen nun nur noch in den Menschtel helfen darf aber bitte zu beiden Geschlechtern und Geschlechterinnen, nachdem man im Kino_in sich mit Batmensch amüsiert hat, weil man den oder die ja nur als Comic_in und nicht als Romensch lesen konnte, einen Film, in dem der/die/das ehemalige Bundespräsident_in Romensch Herzog_in neben Morgan Freemensch zu sehen war, was natürlich die Frage nach der/die/das Fortsetzung_innen und Fortset_zungen mit Dustin Hoffmensch aufwirft, wobei das Chaos inzwischen sogar Nicole Kidmensch erfasst hat, welche unromenschtisch und semenschtisch vollkommen sinnlos, von einem Kaimensch, einem großen Salamenschder gebissen wurde und ihr DIamenschtring verloren ging…. *hrrrrr*

Ich frage mich immer, warum eigentlich die zunehmende Verhackstückelung und Beleidigung unserer schönen Sprache, die ja auch nur von einer Minderheit überhaupt noch beherrscht wird, eigentlich nicht auch eine Gleichberechtigungslobby bekommt und künftig einfach jeden zumindest verbal über den Haufen schießen darf, der sich derart an ihr vergeht. Da hilft dann auch kein Talismensch. Mann, bin ich urlaubsreif….

Von den aktuellen Debatten

Nein, ich wollte es nicht. Weder bei der Sexismus-Debatte, noch bei der Debatte um die Änderungen in den Texten der Bücher von Otfried Preußler wollte ich mich ernsthaft zu Wort melden, zum Einen weil man als Mann bei der ersten Debatte ohnehin nur verlieren kann und zum Anderen, weil ich das Faß mit den „Gutmenschen-Debatten“ sowas von überhaupt nicht leiden kann, weil es gleich wieder dazu benutzt wird eine vermeintlich „linke Zwangsgesellschaft“ zu konstituieren. Und das geht mir als rational denkendem Menschen einfach auf die Nerven.

Warum ich es nun doch tue hat ein wenig damit zu tun, daß ich heute morgen sehr interessiert der Debatte im Deutschlandfunk gelauscht habe, die bis 11.30 Uhr lief. Diskutiert haben hier mit den Hörern in der Sendung „Journal am Vormittag“ unter dem Titel „Vom Umgang zwischen Männern und Frauen – Ist die Debatte über Sexismus überflüssig?“ die Journalistin Katja Kullmann, die ehemalige Chefredakteurin der TAZ Bascha Mika und Michael Rutz, dem ehemaligen Leiter des Rheinischen Merkurs. Alleine die Auswahl machte das Gespräch interessant, Mika, die eher links und feministisch orientiert ist in Kombination mit dem Konservativen Rutz versprach eine interessante Kontroverse. Vor allem verrät aber auch die Sendung eine Menge über den Umgang miteinander und den Mangel an Respekt, den beide alleine dadurch deutlich machten, daß sie sich selten ausreden ließen.

Ich finde es gut, daß diese Sexismus-Debatte endlich angestoßen wurde und noch mehr, daß unter dem Hashtag #aufschrei sich Frauen auch endlich mal öffentlich dazu äußern. Veränderungen können nur erreicht werden, wenn auch ein Problembewußtsein erzeugt wird. Viele der Beiträge sind wertvoll, auch weil ein zum Teil recht seltsam anmutender Umgang mit dem Thema wiederum thematisiert wird wie beispielsweise der Beitrag des Focus zu dem Thema.

Relativ selten wird erstaunlicher Weise darauf eingegangen, warum Frau Himmelreich eigentlich ein Jahr auf die Veröffentlichung gewartet hat – und warum sie das ausgerechnet im Stern veröffentlicht hat. Der Stern als „Tittenblatt für diejenigen, die sich genieren, einen Playboy zu erwerben“, fiel schon öfter mit sehr … naja, sagen wir mal mit Titelbildern auf, die jetzt die Frau eher in Richtung Sexobjekt darstellen. (Beispiele hier, hier, hier, hier und hier, wobei der Stern da jetzt nun nicht alleine dasteht) Als freministische Frontkämpferin würde ich da nun nicht grad veröffentlichen wollen. (Andererseits: Alice Schwarzer schrieb für Bild…)

Was mich an der Diskussion ein wenig stört ist zum Einen die relativ schnell ins Extreme rangierende Meinungsäußerung – das reicht von denen, die künftig keine Komplimente mehr machen wollen auf der einen, bis zu denen, die jedes Kompliment gleich für eine sexuelle Belästigung halten auf der anderen Seite – und der Mangel an relativ gemäßigten, aber nachdenklichen Stimmen. Eine davon wäre der – bescheuert betitelte, inhaltlich aber recht gelungene – Beitrag von Claudius Seidl in der FAZ. Auch die Debatte im Deutschlandfunk war geprägt von gleich wieder ins Extreme neigenden Ansichten – oder, und das ist das, was mich so ein bißchen nervt, der Unterstellungen von extremen Ansichten, bevor der jeweilige Gesprächspartner (egal welchen Geschlechts) seine Ansicht überhaupt artikuliert hatte.

Wenigstens eines drang bei der Gelegenheit ein wenig durch: Das das eigentlich schlimmste Problem des alltäglichen Sexismus die Tatsache ist, daß Frauen für die gleiche Arbeit ein viertel weniger bezahlt bekommen. Das halte ich für ein deutliches und echtes Problem und nicht die Frage, ob man Goethes Faust künftig „Faust_in“ schreiben muß, damit auch keiner beleidigt ist.

In dem Zusammenhang stoße ich mich ehrlich gesagt auch an der Debatte um die „Modernisierung“ oder Anpassung von Ottfried Preußlers Werken. Der Thienemann-Verlag hatte einige Stellen insbesondere in der „kleinen Hexe“ verändert, konkret hängte sich die Debatte an zwei Begriffen auf: Das eine war der Begriff „Neger(lein)“, das andere das Verb „durchwichsen“.
Beide Fälle haben eine unterschiedliche Bedeutung. Der letztere Fall ist die Anpassung an den heutigen Sprachgebrauch, da das Verb „wichsen“ nun einmal nicht mehr als Verb für „polieren“ oder  – in diesem Fall halt – „schlagen, verprügeln“ verstanden wird, es sei denn, man hat sich über die betreffende Wortentwicklung informiert – was einem Studenten oder Sprachwissenschaftler zuzutrauen ist, einem Kind jedoch eher weniger. Die andere Geschichte ist die mit dem „Neger“, was seinerzeit als normaler Begriff benutzt wurde und nicht abwertend gemeint war, heute aber so verstanden wird.

Nun bin ich selber kein sonderlich großer Freund der politisch überkorrekten Sprache. Ich bin der Überzeugung, daß wir unserer Sprache keinen Gefallen tun, wenn wir sie unlesbar machen (beispielsweise durch angehängte weibliche Formen oder gar durch substantivierte Adjektive wie „Studierende“), außerdem gehöre ich nicht zu den Anhängern der These, daß Sprache prinzipiell unterdrückend ist, wenn sie Menschengruppen eingeschlechtlich anspricht. Im Französischen wird eine Gruppe mit „ils“ definiert, außer, sie besteht nur aus Frauen. Nur in diesem einen Fall wird von „elles“ gesprochen. Deswegen sind Frauen in Frankreich aber keine unterdrückte Spezies.

Sprache kann sehr mächtig sein und Sprache kann zur Unterdrückung und Diskriminierung benutzt werden, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Macht man nun das Faß mit dem Geschlechterkampf in der Anrede und der Berufsbezeichnung auf, wird irgendwann ein Schuh daraus: Man kann das weiterspinnen und dann sogar richtig zum Spinnen anfangen, indem man beispielsweise darauf verweist, daß die Quote dunkelhäutiger Feuerwehrleute im Begriff „Feuerwehrleute“ ignoriert wird, daß die hohe Männerquote diskriminiert wird weil der Substantivplural im Deutschen feminin ist und es keinen eigens maskulinen Plural gibt und so weiter…. irgendwann fühlt man sich weit genug getrieben, daß man Projekte wie „Redesign Deutschland“ richtig entspannend findet. Die Hyperparallelisierung, die manche gerne benutzen („jedefrau“), könnte man auch weitertreiben und manche Städte umbenennen („Mann-und-Frauheim! oder auch „Man-and-Woman-Chester“), die Frage darf sich aber stellen, wann da der Gipfel des Schwachsinns im Namen der Vernunft erreicht wurde.

Sprache wird dann diskriminierend, wenn Begriffe benutzt werden, die abwertend verwendet werden. Die Anrede „Sie Schwein“ ist eine Beleidigung und sogar strafrechtlich relevant, gleiches gilt eben auch für Begriffe, die wegen der fortschreitenden Spracherntwicklung heute als diskriminierend verstanden werden. Dazu gehört natürlich der Begriff „Neger“ sowie der noch abwertendere Begriff des „Niggers“, beides sind heute unübliche, und je nach Kontext sogar beleidigende Wörter.

Nun hat „Neger“ aber eine andere sprachliche Entwicklung hinter sich, eine vergleichbare hat der Begriff „Weib“, der heute ebenfalls abwertend verstanden wird. (Wobei auch das wiederum eine hochsprachliche Sache ist, im Dialekt ist das „Weiberl“ beispielsweise nicht zwingend negativ besetzt. Dann gibt es noch Wortungeheuer wie „Mannweiber“, die zwar wenigstens geschlechtsneutral in der Wortsammlung, aber diskriminierend in der Bedeutung verstanden werden können.) Niemand würde heute einen Text schreiben, der sich mit „Mann und Weib“ befasst und ich glaube auch nicht, daß sich dabei irgendwer etwas denkt.

Wenn ich nun mal in die diversen Bibelübersetzungen blicke, dann fällt mir da spontan Epheser 5, Vers 22 ein: „Die Weiber seien untertan ihren Männern als dem HERRN“, so steht es in der Lutherbibel von 1912. Nimmt man hingegen die zweite Revision der Schlachter-Bibel von 1951, so findet sich der Satz hier so: „Die Frauen seien ihren eigenen Männern untertan, als dem Herrn“. Ganz unauffällig hat man in der zweiten Revision ein paar der Begriffe angepasst, um die grundsätzlich ein Geschlecht unterdrückende Botschaft wenigstens sprachlich neutral zu halten.

Nun also werden aus manchen Kinderbüchern vielleicht, ganz sicher halt aus einem, Begriffe wie „Negerlein“ entfernt. Und das ist nicht einmal ein heiliges Buch, sondern nur ein Buch für Kinder, die einen kulturhistorischen Hintergrund eines Wortes, das sie lesen, nicht unbedingt voll erfassen können.
Eine sprachliche Anpassung an gegebene Zielgruppen ist für Texte nichts ungewöhnliches, mein erster Kontakt mit einem Text namens „Parzival“ fand auch nicht mit dem Originaltext statt; Damals war ich nämlich gerade mal acht Jahre alt und wäre sicher nicht in der Lage gewesen, auch nur den Anfang zu verstehen, ja ich habe nicht einmal die durchgereimte, neuhochdeutsche Fassung von Karl Simrock bekommen (auch die hätte einen Achtjährigen überfordert) sondern eine Kinderbuchfassung. Hätte ich sowas lesen sollen:

Sigûne doschesse
hôrte selten messe:
ir leben was doch ein venje gar. (435,25)
ir dicker munt heiz rôt gevar
was dô erblichen unde bleich,
sît werltlîch freude ir gar gesweich.
ez erleit nie magt sô hôhen pîn:
durch klage si muoz al eine sîn.(435,30)

naja, ich wäre wahrscheinlich nicht lange in dem Buch hängen geblieben. Macht ja auch Sinn, ein Kind erst einmal mit einer Ausdruckswelt zu beschäftigen, mit der es auch etwas anfangen kann. Und denjenigen unter den verzweifelten Verteidigern der urspünglichen Druckversion der „Kleinen Hexe“ möchte ich sehen, der seinem Kind etwas auf Mittelhochdeutsch vorträgt.

Ein Kinderbuch um Begriffe wie „Mohr“ oder „Neger“ zu befreien, ohne den eigentlichen Inhalt zu verändern halte ich nicht für schlimm, selbst wenn das manche eigentlich ganz brauchbare Leute auf die albernsten Barrikaden treibt. Auch beim Parzival, dessen Halbbruder Feirefiz ja von einer dunkelhäutigen Prinzessin abstammt, kam der Begriff „Mohr“ meine ich nicht vor – obwohl er im Originaltext durchaus steht. Verloren habe ich dadurch aber nichts.

Die Diskussionen um Sexismus und die um die Änderungen von Preußlers Texten ähneln einander deswegen, weil in beiden Fällen eine vermeintlich angegriffene und kulturbewahrende Minderheit sich mit dem Vorwurf von „Gutmenschentum“ und „linker Gewissensdiktatur“ wehrt – und das ist etwas, was ich überhaupt nicht leiden kann. Neben der schwachsinnigen Begrifflichkeit des „Gutmenschentums“ (Muß ich daraus schließen, daß die betreffenden ein „Schlechtaffentum“ leben?) ist es eigentlich erstaunlich, daß es so etwas wie eine „Gewissensdiktatur“ geben kann: Daß man sich so benimmt, daß man sich nicht schämen muß, kein schlechtes Gewissen hat und niemanden gedankenlos beleidigt wird gleich als Diktatur mißverstanden – das ist nicht nur falsch, sondern einem vernünftigen Diskurs auch abträglich. Ich habe oben dargelegt, daß ich eine Überkorrektheit auch nicht gut finde – insbesondere wo die Umschreibung eines mißliebigen Begriffes irgendwann dazu führt, daß ich jemanden erst recht beleidige oder gar letztendlich die Aussage verkehre – aber ein bißchen darauf achten, wie man daherredet könnte man schon. So viel Erziehung sollte auch liberal denkenden Konservativen in Freiheit zumutbar sein.

Post Scriptum: Mir fiel gerade ein, daß wir ja nicht das einzige Land mit solchen Debatten sind. Siehe dazu die Geschichte rund um einen vermeintlich rassistischen Werbespot von VW in den USA.

Vom Dativ

Ein jeder weiß heute, daß „der Dativ dem Genitiv sein Tod“ ist; Dative sind also sprachliche Vereinfachungen die weniger Mühe bei der Aussprache machen, als es die Formulierung des Genitivs erfordert. Aber was sind Dative eigentlich und was für Arten von Dativen gibt es? Im Rahmen meiner Büffelei für das Staatsexamen bin ich der Geschichte nachgegangen und habe es hier mal zusammengetragen.

E gibt zwei Lager in der Beschreibungsgeschichte des Dativs: Das eine sieht den Dativ in einer klaren Funktion, in einer einheitlichen Form, das andere unterscheidet verschiedene Dativsorten bzw. Dativkonzeptionen zum Einen auf der syntaktischen, zum Anderen auf der semantischen Ebene.

Semantisch? Ja, in der inhaltsbezogenen Grammatik wird der Dativ quasi als Darlegung des Wesens behandelt, die Grundbedeutung der Kasusform wird untersucht. Glinz beispielsweise unterschied 1952 noch nicht zwischen sogenannten freien Dativen und Dativobjekten. Selbst Brinkmann unterschied den Dativ nur dahingehend, daß er Dative der teilnehmenden Personen und der sinngebenden Personen erkannte, eine recht vage Unterscheidung. Ein Dativ der teilnehmenden Person ist ein freier Dativ, der nicht zum Verständnis des Satzes gebraucht wird, also zum Beispiel: „Er trägt ihr den Koffer.“ Der Dativ „ihr“ ist nicht unbedingt nötig, sondern schmückt den Satz aus bzw. verpasst ihm einen größeren Sinngehalt. Ein Dativ der sinngebenden Person ist, laut Brinkmann, ein Dativ, der eine Person beschreibt, welcher sich das Geschehen zuwendet. Also wenn ich „jemandem zulache“, dann ist das Geschehen von mir zur anderen Person gegangen.

 

Man könnte Dative strukturalistisch untersuchen, also den Kasus als Teil eines Systems aller Kasus. Dabei gibt es allerdings das Problem, daß man freie Dative nicht einsortieren kann, weil sie systematisch nicht beschreibbar sind. Zwar versuchte Fillmore mit der Tiefenkasustheorie dem zu begegnen, scheiterte aber letztendlich.

Freie Dative
Jetzt habe ich diesen Begriff schon mehrfach benutzt, vielleicht sollte ich ihn nochmal etwas eingehender erklären. Freie Dative sind sowohl semantisch, als auch syntaktisch verbunabhängig, das heißt, sie werden nicht vom Verb regiert. Man kann sie meistens einfach weglassen und trotzdem bleibt der Satz grammatikalisch korrekt, es geht nur eine Information verloren. Es gibt mehrere Typen, die man unterscheiden kann:

  • Der Dativus Ethicus: Drückt eine gefühlsmäßige Anteilnahme aus. „Fall mir bloß nicht auf!“ Heute wird er seltener gebraucht, vielleicht noch bei Ermahnungen, aber im großen und ganzen gilt er als veraltet. Dieser Dativ ist nicht erststellenfähig, man kann ihn also nicht nach vorne stellen.
  • Der Dativus Commodi: Er bezeichnet den Begünstigten einer Handlung. „Peter fährt ihr das Auto in die Garage.“ Dieser Dativ ist erststellenfähig: „Ihr fährt Peter das Auto in die Garage“. Auch dieser Dativ ist prinzipiell weglassbar.
  • Der Dativus Incommodi: Er ist das genaue Gegenteil, bezeichnet also den Geschädigten einer Handlung. Ob man die beiden ernsthaft unterscheiden muß ist eine semantische Frage, keine syntaktische. „Es sind ihm alle Teller heruntergefallen.“, wäre so ein Satz.
  • Der Dativ Iudicantis: Dieser Dativ bezeichnet den Sprecher einer Aussage und verschafft ihr so Gültigkeit. „Das Essen war ihm zu heiß“
  • Der Pertinenzdativ: Er ist ein possessiver Dativ, der in aller Regel bedingt ist. Daher ist er nicht weglassbar weil sonst die Schlüsselinformation des Satzes fehlt. Allerdings ist er erststellenfähig, also betont. „Mir brummt der Schädel“

Das Gegenstück zum freien Dativ ist das Dativobjekt, also der konstitutive Dativ. Er ist erststellenfähig, nominal und pronominal, manchmal weglassbar und kann nicht durch ein Gefüge mit „für“ ersetzt werden. Gemein ist es, freie Dative und Dativobjekte zu unterscheiden, das ist manchmal gar nicht so einfach.

Beispiel: „Ich schreibe ihm einen Brief.“

Das kann jetzt ein Dativobjekt sein: Ich schreibe ihm einen Brief, also an ihn. Dann ist es relevant, weil es den exakten Bezug herstellt.

Das kann aber auch ein Dativus Commodi sein: Ich schreibe ihm einen Brief, also für ihn. Jetzt ist es nicht mehr relevant, ein freier Dativ.

Ich brauche also zur Unterscheidung manchmal den semantischen Zusammenhang, um die syntaktische Funktion festzustellen.

Vom Vokalismus

Sprache und Sprachwissenschaft ist ja eines der Fächer, die so ein bißchen nebenbei laufen und bei denen kaum einer, der nicht daran beteiligt ist, genau sagen kann, welchen Zweck das Ganze eigentlich hat. Ich werde heute und in den folgenden beiden Tagen aus aktuellem Anlaß einiges aus der Sprachwissenschaft darstellen, was dem geneigten Leser vielleicht dabei helfen kann, seine eigenen Studien zu erweitern.

Was, zum Geier, ist „Vokalismus“?

Vokalismus ist, ganz einfach ausgedrückt, der Gesamtbestand der Vokale in einer Sprache. Im Deutschen sind das grundsätzlich nur fünf Stück: a,e,i,o und u. Dazu kommen allerdings Umlaute und Diphthonge, also aus zwei Vokalen bestehende Vokallaute. Wenn man nun im Rahmen der Sprachgeschichte Vokalismus untersucht, dann untersucht man also speziell zwei Bereiche: Den Wandel der Vokale und ihre Häufigkeit im Ausdruck. Das Gegenstück ist übrigens „Konsonantismus“, die Lehre von den Konsonanten.

Was hat sich denn mit den Vokalen so verändert?

Vokale sind eine tolle Sache: Erst sie geben dem Wort wirklich eine Bedeutung und lassen es uns sprechen, denn Konsonanten sind im großen und Ganzen klanglos. Vokale werden aber im Neuhochdeutschen recht einheitlich, in den Dialekten aber recht unterschiedlich benutzt. Das Bayerische beispielsweise verwendet mitunter mehr Vokale für das gleiche Wort: statt „Bruder“ sagt man „Bruada“.

Das ist tatsächlich ein sprachlicher Rest aus den mittelalterlichen Sprachen. Hier muß man sich zunächst eine Sache klar machen: Mittelhochdeutsch ist keine Einheitssprache, die uns irgendwie schriftlich überliefert ist, sondern mehr ein Ausdruck für eine Gruppe von Überlieferungen, denen eine ähnliche Grammatik und Ausdrucksweise zugrunde liegt, die aber dennoch große Unterschiede zueinander aufweisen. Mit Hilfe von Texten und ihrem sprachlichen Ausdruck ist es manchmal möglich, bestimmte Autoren festzumachen, von denen wir andere Texte schon kennen.

Vom Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche haben sich allerdings einige bestimmte Lautwandlungen vollzogen, von denen ich hier einige überblicksweise behandeln möchte:

  • die neuhochdeutsche Monophthongierung
  • die neuhochdeutsche Diphthongierung
  • die Entrundung der Umlaute und die kombinatorische Rundung
  • Senkung
  • Hebung
  • Dehnung
  • Kürzung
  • Diphthongwandel
  • die Weiterentwicklung des Umlautes
  • Ausgleichserscheinungen
  • die Entwicklung der mittelhochdeutschen e-Laute
  • und schließlich noch den Vokalismus in den Nebensilben.

Puh, ein ganz schönes Arbeitsprogramm. Das wird ein langer Artikel, packen wir’s also an.

Beginnen wir erst einmal mit den grundsätzlichen Fragen der Sprachentwicklung: Es gab vor dem 16. Jahrhundert keine einheitliche Schriftsprache, jeder schrieb, wenn er denn schrieb, so, wie er sprach. Daher geben uns die Texte einen zum Teil recht schönen Aufschluß darüber, wie man wohl früher gesprochen hatte. Maßgeblich zur Vereinheitlichung der Schriftsprache beigetragen hat die lutherische Übersetzung der Bibel, die Verbreitung erfolgte durch den Buchdruck. Nun sprach Luther aber gar nicht Hochdeutsch, sondern Mitteldeutsch, um genau zu sein, Obermitteldeutsch, eine Sprache, die sich im 11. Jahrhundert durch die deutsche Ostsiedelung und die daraus folgende Sprachmischung mit den ansässigen Völkern entstanden ist; Ein Teil dieser neuen Sprache hat auch Eingang in die Schriftsprache gefunden.

Mitteldeutsch? Ja, man unterscheidet Hochdeutsch, Niederdeutsch und Mitteldeutsch und so albern es auch klingt es hat etwas mit der Höhenlage der Wohnung der Sprechenden zu tun. Hochdeutsche Sprachen finden sich im Süden, Niederdeutsche im Norden des deutschen Sprachgebietes. Plattdeutsch ist beispielsweise ein Niederdeutscher Dialekt, sächsisch ist eher Mitteldeutsch und bayerisch ein hochdeutscher bzw. präziser ein oberdeutscher Dialekt. Das Oberdeutsche umfasst das Bayerische (allerdings das Altbayerische) und das Alemannische.

Fangen wir nun also mit den Besonderheiten an. Denn es gibt einige Dinge, die man im Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen festhalten kann und die uns auch systematisch vorkommen. Man muß sich nur im Klaren darüber sein, daß dieser Wandel nicht eine unmittelbare Weiterentwicklung darstellt, sondern eher punktuell stattfand. Da gibt es verschiedene Theorien, das eine ist die sogenannte Wellentheorie, die besagt, daß die Sprachentwicklung als Monogenese in kleinräumlichen Bereichen begann und sich dann wellenartig ausbreitete, und zum Anderen gibt es da die Entfaltungstheorie, die eine Polygenese behauptet, daß sich also die Sprachentwicklung an mehreren Stellen durchsetzte und viele Kleinräume so letztendlich einen Großraum ergaben.

Beginnen wir nun also mit der neuhochdeutschen Monophthongierung. Alleine das Wort verursacht ja gefühlt schon Kopfzerbrechen. Es bedeutet, daß im geregelten Lautwandel vom Mittel- zum Neuhochdeutschen ein Diphthong wie zum Beispiel „uo“ oder „ie“, das man im Mittelhochdeutschen tatsächlich komplett aussprach, zu einem Monophthong wurde, in den genannten Beispielen oftmals zu „u“ und zu „i“. Das ie ist insofern etwas Besonderes, weil sich die Schreibweise manchmal erhalten hat und das „e“ zu einem Dehnungs-e wird. Sprach man also mittelhochdeutsch „hier ruoft der reke küen“ jeden Buchstaben aus, so sagt man neuhochdeutsch „hier ruft der Recke kühn“. Es gibt eine Vielzahl von Wörtern, auf die dieser Vorgang zutrifft.

Was daran fasziniert ist die Tatsache, daß sich diese Sprachwandlung im Mitteldeutschen Raum, vor allem im Rheinland ausgebreitet hat und beispielsweise im bayerischen nicht angekommen ist. „bruoder“ (mhd.) ist im bayerischen „Bruada“geblieben, nur eine minimale Senkung der Vokale fand da statt.

Das genaue Gegenteil ist die neuhochdeutsche Diphthongierung. Hier wurde aus einem mittelhochdeutschen Monophthong ein Diphthong. Der Monophthong war im Mittelhochdeutschen oftmals ein langer Vokal, was man durch die Schreibweise mit einem Zirkumflex ausdrückte. Den Zirkumflex kennen die meisten wahrscheinlich noch aus dem Französischen, wo er in der Regel den Überrest eines ausgefallenen „s“ darstellt (frz. fenêtre = lat. Fenestra). Im Mittelhochdeutschen zeigt er an, daß ein Vokal lang gesprochen wird. Diese langen Vokale und manche Diphtonge (wie „iu“, das zu „eu“ wurde) werden im Neuhochdeutschen zu Diphtongen: „mîde lûte liute“ wird zu „meide laute Leute“

Kommen wir zu Rundungen und Entrundungen.
Die mittelhochdeutschen Vokale e, i und â werden im Neuhochdeutschen gelegentlich labialisiert, also gerundet. Gerundet heißt, ist wirklich so simpel, mit gerundeten Lippen gesprochen. So wird aus mhd. „helle“ nhd. die „Hölle“, aus „finf“ wird „fünf“, aus „mâne“ wird der „Mond“. Und was ist nun die Entrundung? Nun, der Übergang von gerundeten Monophthongen und Diphthongen zu auf gleicher Zungenhöhe benachbarten, ungerundeten Vordervokalen nennt man Entrundung. Das tritt allerdings nur vereinzelt auf, beispielsweise wird aus dem mittelhochdeutschen „küssen“ im neuhochdeutschen „Kissen“.

Senkung, Hebung, Dehnung, Kürzung
Das Mittelhochdeutsche sprach sich völlig anders aus. Vorhin habe ich ja erwähnt, daß man lange Vokale mit einem Zirkumflex ausstattete – und das bedeutet, daß man alle anderen Vokale mit wenigen Ausnahmen kurz gesprochen hat.

Die neuhochdeutsche Dehnung ist nun der Vorgang, daß ein kurz gesprochenes Wort heute lang gesprochen wird. So sagte man früher „Nibelungenklage“ und sprach dabei den Teil „klage“ wie „klagge“, wird das vielleicht klarer. Manchmal gibt unsere Schreibweise das wieder: Bei „Wiese“ zum Beispiel, was früher unter Umständen „wise“ geschrieben wurde.

Eine Kürzung ist genau das Gegenteil: Hier werden aus langen Lauten kurze. Kürzungen sind wesentlich seltener, da sie nur geschlossene Tonsilben betreffen. Hieß es also früher „hôchzît“ (zwei lange Vokale), sagt man heute „Hochzeit“.

Senkungen und Hebungen sind eine Ausspracheveränderung. Im Mittelhochdeutschen wird das „ei“ beispielsweise fast immer „e-i“ ausgesprochen, also das „e“ bleibt im Laut erhalten. „keiser“ wäre so ein Wort. Das wird im Neuhochdeutschen zu „Kaiser“ gesenkt. Aus „ouge“ wird „Auge“. Vor Nasal-Lauten findet das auch noch einmal statt: Aus „sumer“ und „sune“ werden „Sommer“ und „Sonne“.

Fortsetzung folgt…

Toleranz im Mittelalter

Seit die FDP den erfolgreichen Versuch unternommen hat, mit der Einführung islamischer Feiertage mal wieder in die Presse zu kommen, haben wir endlich mal wieder eine Integrations- und Toleranzdebatte. Ganz neu ist das nun nicht – aber es ist älter als viele denken: Das gab es schon im Mittelalter.

Der mittelalterliche Dichter Wolfram von Eschenbach gilt als einer der größten Literaten seiner Zeit. Er hat eine Reihe großer Dichtungen verfasst beziehungsweise aus dem französischen übersetzt (von Chrétien de Troyes, um genau zu sein), darunter den Parzival, den Willehalm und den Titurel. Der Parzival gilt als Wolframs bekanntestes und wichtigstes Werk, es ist in Teilen eine Übersetzung des Li Contes del Graal ou Le roman de Perceval von Chrétien de Troyes und teilweise eine eigenständige Dichtung.

Aber ein ebenso bemerkenswerter, wie besonders schwierig zu lesender und zu übersetzender Roman ist der Willehalm, dessen Herzstück vermutlich die sogenannte Toleranzrede ist. Ich habe hier mal die Rede für Sie abgezogen und werde sie hernach auch übersetzen (da ich mal annehme, daß die wenigsten Mittelhochdeutsch können).

Zur Einordnung: Willehalm, ein Schwager des Französischen Königs Ludwig, reist des Rittertums wegen in das Morgenland und verliebt sich in Arabel, eine heidnische Prinzessin. Diese heiratet ihn und nimmt den christlichen Glauben an, als sie mit ihm zurückkehrt. Die Heiden, gemeint sind hier Muslime, fahren voll Zorn hinterher (eigentlich war Arabel nämlich mit dem König von Arabi, Tybalt verheiratet) und fordern Willehalm zum Kampf. Arabel, die sich nun Gyburg nennt, hält nun kurz vor der zweiten Schlacht diese Rede:

Übersetzung:

(306) All diese Not war durch Gyburg verursacht. Die stand nun auf und sprach höfisch, bevor der Rat der Fürsten auseinanderging:

″Wer Erziehung und Treue in sich trägt, der sollte meine Worte vernehmen. Gott weiß, daß der Hort des Leides so sehr mein Herz vereinnahmt, daß es mir fast den Leib zerreißt.″

Jene, die ihr gegenüber aufgestanden waren bat sie, sich wieder zu setzen und nicht zu gehen. Als sie alle wieder saßen sprach sie: ″Der große Sterben, das hier geschehen ist auf beider Seiten, und wofür mich die Christen ebensowenig wie die Heiden lieben, das möge Gott an mir rächen für beide Seiten, so ich denn schuldig sei. Den römischen Fürsten hier aber sage ich: Ihr mehret die christliche Ehre, falls Euch Gott so fern unterstützt, daß ihr im Kampf auf Alischanz den jungen Vivianz an meinen Verwandten und ihrem Heer rächt: Die werdet Ihr sehr wehrhaft finden.

Und wenn den Heiden Schande widerfährt, so bleibt doch selig: Hört auf den Rat eines tumben Weibes und schont die Schöpfung Gottes. Der erste Mensch, den Gott machte, war ein Heide.

(307) Nun glaubt, daß Elias und Enoch noch immer Heiden waren. Noah war auch ein Heide, der mit der Arche gerettet wurde. Hiob nannte man fürwahr einen Heiden, den Gott deswegen nicht verstieß. Nun nehmt auch drei Könige wahr, deren einer heißt Kaspar, Melchior und Balthasar: Die müssen wir für Heiden halten, die aber nicht verflucht sind: Gott selbst empfing mit seiner Hand die ersten Gaben an der Mutter Brust von ihnen. Die Heiden sind nicht alle zur Verdammnis verurteilt.

Wir alle haben fürwahr bekannt, daß Mütter seit Evas Zeiten Kinder gebaren, deren Geburt zweifellos als Heiden ist: Etliche waren noch ungetauft. Das getaufte Weib trägt stets den Heiden, auch wenn das Kind von der Taufe umgeben ist. Die Taufe der Juden hat eine andere Seite: die begehen sie mit einem Schnitt.

Wir alle waren doch zuerst Heiden. Dem Tugendhaften tut es doch weh, wenn der Vater seine Kinder in die Verdammnis schickt: Jener mag sich ihrer erbarmen, der die wahre Barmherzigkeit in sich trug.

(308) Nun glaubt auch daß die Menschheit den Engeln ihren Stand abnahm, in den sie gesetzt waren, daß nun wir in den Himmel in den zehnten Chor fahren können. Die zeigten Gott einen solchen Widerstand, daß seine ewige Allmacht von ihnen verraten wurde. Die selben Notgestalten müssen wegen ihrer Gedanken fallen: Gott ließ sie nicht zu Taten schreiten, er weiß wohl auch um die unvernommenen Gedanken.

Darum wurde der Mensch erdacht. Es haben sich bei9de, Mensch und Engel, in Gottes Haß gebracht: Wie kommt es nun, daß der Mensch besser als der Engel hoffen kann? Mein Mund wird Euch diese Geschichte erzählen.

Der Mensch wurde durch schlechten Rat verdammt: Der Engel hat sich selbst entschieden zur ewigen Verdammnis mit seiner Arglist, und alle, die zu ihm standen hat die selbe Strafe ereilt. Die fahren noch heute mit dem Menschen, als ob der Chor ihr Erbe sei, der denen als Erbe zusteht, die sich mäßigen können in dem was Gottes Zorn erwirbt und seine Seligkeit verdirbt.

(309) Was auch immer Euch die Heiden getan haben, ihr sollt sie trotzdem am Leben lassen, so wie Gott selbst jenen vergeben hatte, von denen er den Tod empfing. Wenn Gott Euch den Sieg gibt, laßt Euch im Kampf erbarmen. Unser Vater Tetragrammaton [das steht für JHWE, Jahwe, Gott] hat sein hohes Leben für die Schuldigen gegeben. So lohnte er seinen Kindern den vergesslichen Sinn. Seine Liebe und sein reiches Erbarmen schließt manch Wunder ein,er wird in seiner Treue nicht müde die helfende Hand zu erheben, die beides, Wasser und Land, einst so künstlerisch erschuf, das alle Kreaturen benötigen, die der Himmel umspannt. Dieselbe Hand schuf die Planeten, und lässt sie ihren Lauf in Ferne und Nähe vollenden. Wenn sie nie aufgehalten werden bringen sie Wärme und Kälte: mal schaffen sie das Eis; danach schicken sie Saft in die Bäume, so daß die Erde ihre Gestalt ändert und der Mai sie lehrt, ihre Wandlung zu vollstrecken und nach dem Reif die Blumen stecken.

(310) Ich diene dieser künstlerischen Hand und für den Gott der Heiden, Tervigant gilt: Die Kraft dieser Hand hat mich von Mohammed weg unter die Taufe geführt. Darum trage ich den Haß meiner Verwandten; und der Getauften deswegen: Sie wähnen, daß ich um weltlicher Liebe willen diesen Streit verursacht habe. Fürwahr, ich ließ auch Liebe dort zurück, und großen Reichtum, manchen Schatz, und ein schöne Kinder bei einem Mann, von dem ich nicht wissen kann, ob er je eine Untat beging, seit ich die Krone von ihm empfing. Tybalt von Arabien ist von aller Untat frei: Ich trage allein die Schuld durch die Gnade des höchsten Gottes, und einen Teil auch wegen des Marktgrafen, der so manchen Preis errungen hat. Ach Willehalm, aufrechter Held, daß Die meine Liebe so bitter vergällt wird! Wie viele aufrechte Männer haben in deinem Dienste ihr Leben verloren! Ihr Armen und Ihr Reichen, glaubt mir daß mir der Verlust Eurer Verwandten Jammer ins Herz schickt: Fürwahr, meine Freude ist mit ihnen gestorben.″

Sie weinte viel: Dazu zwang sie ihr Leid.

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Für das Mittelalter bemerkenswert ist, daß der Aufruf zur Toleranz mit der Bibel begründet wird: Jedes Lebewesen ist ein Heide bis zu seiner Taufe, das gilt auch für das christlich geborene Kind. Und somit sind vor Gott alle Menschen gleich und alle seine Schöpfung. Es gibt also keine per se schlechten oder falschen Menschen, sondern nur Menschen und diese müssen nach Gottes Geboten Gnade aneinander zeigen. Ein Gedanke, den man den religiösen Extremisten unsrer Zeit, egal iob katholisch oder muslimisch, gerne mal wieder an den Schädel nageln würde. Ich finde, am Jahrestag von 9/11 ist das eine wichtige Forderung.