Fundstück der Woche (36.KW): Sarrazin umschleimt von Hofberichterstattern

Ekeln Sie sich gern? Ich nicht. Deswegen besitze ich weder Fernseher noch Radiogerät. Dennoch bin ich auf dieses Interview aufmerksam geworden.

Sarrazins Aussagen sind, abgesehen von der bildhaft hochnäsigen Art,  interessant:

  • „Ich habe auch in Ihrer Klasse…. also den Journalisten[…]“
    Ist doch schön wenn ein Idol der Rechtsfaschisten noch bei Marx ist, was? Lieber Thilo: Das Klassendenken wurde mal abgeschafft. Das haben wir der bürgerlichen Bagage zu verdanken die sich heute bei den Banken anbiedert wie eine notgeile Katze und ansonsten auch nicht grad zurechnungsfähig genannt werden kann. Heute heißt sowas Schicht. Das beschäftigt bürgerliche Sozialwissenschaftler ungemein. Sie werden die Erkenntnisse der Marxisten bezüglich der Klassen dann irgendwann auch begreifen.
  • „[…] glaube ich anhand der geschriebenen und gesprochenen Dokumentare, daß 70 oder 80% derer die zu meinem Buch [sich] äußerten es nie aufgeschlagen haben.“
    Ja. Das ist ziemlich sicher wirklich so. Rechte und Rechtsradikale haben kein Sonderprivileg was Dummheit angeht, das findet man genauso bei normal-mittigen und bei Linken. Verstärkter bei „Richtig Linken“ denn bei Latent Linken oder eben Sozialdemokraten. Deppen gibt es überall. Aber, mein lieber Thilo, zu den berechtigten Einwendungen von „linker“ Seite – oder von Journalisten – die halt notfalls Ihr Buch Seite für Seite auseinander genommen haben hatten Sie es nie nötig eine wissenschaftlich fundierte Antwort zu liefern. Alles was kam war die übliche Halbstarken-Polemik von geradezu King’schem Format. Ihre Redeweise erinntere mich immer an Henry Bowers. Statt also laut lärmend über die wissenschaftliche Mehrheit herzufallen hätten Sie mal lieber ein paar echte Zahlen hergebracht. Aber was soll’s – ist eh schon lang diskutiert.
  • Nett ist das Stottern ab der 9. Minute – wobei der wirklich dümmliche Moderator Sarrazin auch kaum eine Chance lässt sich zu artikulieren – und dann sagt Sarrazin deutlich, er sei „gegen die Zuwanderung von Afrika und dem Mittleren Osten“. Sonst käme keiner außer denen. Die Lösung ist Ficken. Also so mit Kinder.
    Kleines Problem dabei: Seine Denkweise ist Kinderunfreundlich. Wer will sein Kind in eine Welt voller „Kopftuchmädchen“ und ihrer Hasser gebären? Warum nicht in eine normale Welt – wo alle sein dürfen was sie sind..?

Schande

Im politischen Alltag unserer Republik gab es ein Ereignis, das so beschämend für die Sozialdemokratie und die SPD ist, daß einem einfach die Worte fehlen sollten; Dennoch möchte ich einen offenen Brief an Frau Nahles schreiben, die sich in meinen Augen nun endgültig unmöglich gemacht hat.

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Frau Nahles,

mit großem Bedauern habe ich zur Kenntnis nehmen müssen, daß Sie meiner Partei und meiner Grundüberzeugung offensichtlich mit einer gewissen Beklemmung entgegentreten. Grundwerte, die sich auf die rechtliche Gleichheit aller Menschen und der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens berufen.

Die SPD ist eine Partei, die in ihrer stolzen Geschichte bereits von Menschen verfolgt worden ist, die so denken, wie das der von Ihnen in der Partei willkommen geheißene Thilo Sarrazin tut – und Sie sollten sich darüber im klaren sein daß eine Gruppe, die einen Sozialdarwinisten in ihrer Mitte duldet eigentlich vom Verfassungsschutz zu beobachten ist.

Ich muß Sie (als eine Vertreterin des SPD-Vorstandes!) offensichtlich an das Hamburger Programm erinnern: Wir, die SPD, kämpfen politisch für „eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft“ sowie die „Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen“. Weitere Zitate gefällig?

Die gleiche Würde aller Menschen ist Ausgangspunkt und Ziel unserer Politik. Menschen tragen verschiedene Möglichkeiten in sich. Sie sind weder zum Guten, noch zum Bösen festgelegt. Sie sind vernunftbegabt und lernfähig. Daher ist Demokratie möglich. Sie sind fehlbar, können irren und in Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig.
Jeder Mensch trägt Verantwortung für sein Leben. Niemand kann oder soll sie ihm abnehmen. Menschen dürfen nie zum Mittel für irgendwelche Zwecke erniedrigt werden, weder vom Staat noch von der Wirtschaft.
(…)
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ächten Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Sie haben Deutschland in seine schlimmste Katastrophe geführt. Wir werden deshalb immer dafür kämpfen, dass unser Land nie wieder in Barbarei abgleitet.
(…)
Wir sind für den Dialog zwischen den Kulturen. Er dient dem inneren und äußeren Frieden, aber auch der Integration. Wenn friedliche Globalisierung gelingen soll, brauchen wir eine Kultur der Anerkennung, die der Ausgrenzung von Minderheiten und ebenso der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenwirkt. Wir wollen kulturelle Vielfalt statt fundamentalistischer Verengungen und der Politisierung von religiösen und kulturellen Unterschieden, aber auch statt globaler Monokultur. Erst eine lebendige Kultur der Anerkennung ermöglicht eine Gesellschaft, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können.

(Alle Zitate entstammen dem Hamburger Programm)

Eugeniker wie Sarrazin, die zwischen wertem und unwertem Leben unterscheiden, gehören da nicht dazu. Sie gehören diskutiert, widerlegt und wenn sie erkenntnisresistent sind aus unserer Mitte entfernt. Sie sind Verräter am sozialdemokratischen Erbe und an sozialdemokratischer Grundüberzeugung.

Welchen Kompromiß Sie da geschlossen haben, womit Sie gekauft wurden, Frau Nahles, ist nicht ersichtlich. So manch schmerzhaften Kompromiß hat diese Partei schon aushalten müssen aber bei Fragen der grundsätzlichen Menschlichkeit war die SPD vielleicht wehrlos, aber nicht ehrlos.

Bei Ihnen verhält es sich genau anders herum.

Alleine der Vorgang in der Causa Sarrazin wird viele Mitglieder der SPD zum Austritt bewegen und das zu Recht. Ich selbst erwäge das, aber ich bleibe meinen Grundüberzeugungen treu und werde dafür kämpfen daß die SPD wieder eine SPD wird – und Menschen wie Sie in dieser Partei nichts mehr zu sagen haben.

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Grußlos und enttäuscht,

Lastknight Nik

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Artikel zum Thema finden sich bei Zeit.de, bei den Nachdenkseiten sowie der Sueddeutschen und der FAZ.

Berliner Erklärung

Eine Reihe von Genossen haben die Berliner Erklärung unterzeichnet.

Ich fordere alle Genossen mit Anstand auf, die Petition mitzuzeichnen.

(Dieser Link führt zur Petition)

Berliner Erklärung zur Beendigung des

Parteiordnungsverfahrens gegen Dr. Thilo Sarrazin

Von: Aziz Bozkurt aus Berlin

An:   Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) in Deutschland

Viele Menschen in Berlin, in der gesamten Bundesrepublik und auch im Ausland haben kein Verständnis für das Ergebnis und den Verfahrensablauf des Parteiordnungsverfahrens gegen Genossen Dr. Thilo Sarrazin. Nicht nachvollziehbar erscheint vor allem der Zickzackkurs der Partei. Wir entschuldigen uns bei den Menschen, die sich durch diese Haltung verletzt oder enttäuscht fühlen. Wir appellieren an die Genossinnen und Genossen unserer Partei, die sich mit dem Gedanken eines inneren Rückzuges oder gar Austritts tragen: Jetzt gerade nicht! Wir brauchen Euch! Die Partei braucht Euer politisches Rückgrat!
In gemeinsamer Verantwortung für unsere Partei, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, stellen wir fest:

1. Wir sind und bleiben die Partei des sozialen Aufstiegs. Wir geben nicht große Teile der Bevölkerung verloren, sondern ringen um Konzepte für gerechte Teilhabe. Elitärer Dünkel, Ausgrenzung von Gruppen – mit oder ohne Migrationshintergrund –, menschenverachtendes Gerede oder gar rassistischer Habitus haben in unserer Mitte keinen Platz.

2. Wir verteidigen die Meinungsfreiheit aufrecht. Die SPD ist jedoch eine politische Wertevereinigung, die – wie bei jeder anderen Partei – durch ihr Grundwertekorsett einen äußersten Meinungsrahmen vorgibt. „Die gleiche Würde aller Menschen ist Ausgangspunkt und Ziel unserer Politik … und unabhängig von … wirtschaftlicher Nützlichkeit.“ Dieser äußerste Wirkungsrahmen ist nicht verhandelbar.

3. Die politische Verantwortung und der Gestaltungsanspruch der SPD enden nicht an irgendeinem Wahltag. Unsere Grundwerte sind nicht beliebig und stehen nicht zur Disposition Einzelner. Nachdem auf allen Parteiebenen Gremienbeschlüsse zum Parteiordnungsverfahren vorlagen war es politisch angezeigt, diese Gremien vor einer Verfahrensbeendigung ohne Sachentscheidung zu befassen.

Begründung: s.o.

Im Namen aller Unterzeichner.

Berlin, 25.04.2011 (aktiv bis 24.10.2011)

Hurra, wir dürfen wieder!

In den vergangenen Tagen unserer Republik gab es ein Ereignis, auf das eine große, polternde und eine kleine, verschwiegene Masse offenbar seit Jahren gewartet haben: Die Erlaubnis, „es wieder tun zu dürfen.“

Den Startschuss gab eine Veröffentlichung von einem Menschen, der bis dato noch in der SPD sein Dasein fristet und der einst im Vorstand der deutschen Bundesbank diente: Thilo Sarrazin. Aufgrund seiner (in einer anderen Notiz hinreichend beleuchteten) Veröffentlichung geraten die seit langem ihr Bekenntnis offen tragenden Rassisten (Wie die Hetzmedien BILD und BUNTE), als auch jene, die sich von gesellschaftlichen Konsens „unterdrückt“ gefühlt habenden Menschenächter in eine Art Freudentaumel.

Endlich darf man es wieder tun. Endlich darf man es wieder sagen. Endlich spricht einer die Wahrheit aus. Endlich dürfen wir feste druff.

Seither beobachte ich eine erstaunlich rasch wachsende Wut, die sich in offenem Haß gegenüber „Islamisten“ (womit grundsätzlich Muslime gemeint sind) entwickelt. Hetzseiten wie pi-news treiben die Geschichte bis zur bitteren Realsatire, wenn sie aufzählen wie oft Christen in muslimischen Ländern Schwierigkeiten bis Verfolgung erleben und in den Kommentaren die Nutzer dann als Beweis der überlegenen christlichen Zivilisation Mord, Verfolgung, Vergasung und Totschlag fordern.

Hassprediger unter sich, super.

Der allgemeine Umschwung ist schon lange dezent spürbar gewesen, aber nun endlich jagen die europäischen Konservativen im Verbund mit der nationalistischen Rechten das fremdländische Blut. So werden Scharia-Gerichte zitiert um die „Islamisierung Europas“ zu belegen. Dass dies ein Ergebnis einer Rechtslücke ist die zu schließen nun beabsichtigt wird, wird konsequent weggelassen. Dass der Islam als eine weltumspannende Religion eine Sammlung von Strömungen ist die jede für sich eine eigene Auslegung von Gesetzen und Rechtsgutachten (Fatwa) hat, wird totgeschwiegen, stattdessen die Situation im Iran als beispielhaft aufgeführt und als Endziel der hier lebenden Muslime dargestellt.

Das alles ist nicht nur Quatsch, die Verschwörungstheorie der Islamisierung der Welt (die nebenbei lediglich die „Judaisierung der Welt“ und die „kommunistische Weltverschwörung“, sowie natürlich die „jüdisch-kommunistische Weltverschwörung“ ersetzt hat) hat auch nichts mehr mit Sarrazin zu tun. Sarrazin ist ein hasserfüllter Wirrkopf der vor allem vor Bedeutungslosigkeit und Armut Angst hat und diese Angst in seine Aggressionen ummünzt, um sich seiner eigenen Bedeutungsfreiheit nicht gewahr zu werden. Eigentlich ein bemitleidenswertes Geschöpf.

Die sich da selbst aufbauende Woge aus Ablehnung, Fremdenangst und Fremdenhass, welche die verhasste „linke Republik“, die „Linke Intoleranz“ (der Intoleranz) und der „Multi-Kulti-Irrsinn“ hinwegspülen soll wird noch ganz erstaunliche Erkenntnisse liefern, da bin ich mir sicher. Aber keine guten.

Manipulation und Fälschung im Buch „Deutschland schafft sich ab“

Zum Beginn darf ich hier einen anderen Blog zitieren um meinen eigenen zu starten. Die Quelle hat sich besonders in den Kommentaren leidlich viel Mühe gegeben, die anbrandende Diskussion zu führen. Kommentare daher bitte dort posten, mir dient dies nur als Aufhänger und als Test für den Blog und die Software als solches.

Manipulation und Fälschung im Buch „Deutschland schafft sich ab“

Das Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ von Thilo Sarrazin ist bereits erfolgreich, bevor es erschienen ist. Nicht weniger als 93% von 122.689 Lesern von www.bild.de, wo Vorabauszüge aus dem Buch erschienen waren, halten Sarrazins Thesen für richtig, darunter eine winzige Minderheit, die lediglich die Formulierungen für zu hart hält.[1] Auf www.amazon.de sind bereits am Vorabend des Erscheinens, am 29.8.2010, nicht weniger als 85% der Kundenrezensionen mit der Bestnote „5 Sterne“ versehen worden.[2]

Sarrazin behauptet wiederholt, er würde sich mit seinem Buch auf „empirische Erhebungen“ (S. 11) stützen und im Gegensatz zu „jener Kaste von Wissenschaftlern, Politikern und Verbandsfunktionären“ – für Sarrazin eine Art Horrorkabinett – „Daten und Fakten“ (S. 86) sowie „Zahlen und Analysen“ (S. 391) anführen, die seine Thesen belegen würden.

Immer wieder erweckt Sarrazin den Eindruck, Andersdenkende seien „Beschwichtiger und Verharmloser“ (S. 8), „politisch korrekt“ (S. 10, 18), „gefühlsbetont“ (S. 89), „selbstgerecht“ (S. 86) und vor allem „unvernünftig“ (S. 8, 207, 329, 377) und „unrealistisch“ (S. 11, 19, 49).

Tatsächlich enthält das Buch eine ganze Menge an Statistiken, die ihre Wirkung auf die Leser nicht verfehlt. So schreibt etwa ein Laienrezensent auf www.amazon.de „Alles was in diesem Buch steht ist statistisch belegt und unstrittig.“ Immerhin 75% der Kommentatoren fanden diese Rezension „hilfreich“. Eine zweite Rezension – 87% „hilfreich“ – schreibt: „Sarrazin belegt seine Thesen mit realen Fakten und Zahlen.“[3] Darüber hinaus erweckt Sarrazin den Anschein, sich auf anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen. Das Buch weist einen umfangreichen Fußnotenapparat auf, und Sarrazin verwendet immer wieder Formulierungen wie „es lässt sich zeigen, dass…“, „empirische Evidenz“, „aktueller Forschungsstand“ oder „in der Sache unstreitig“, die bei dem Leser den Eindruck erwecken, Sarrazin stütze sich auf den Stand der Forschung. An einigen Stellen maßt Sarrazin sich sogar an, über die „Seriösität“ von Wissenschaft ein Urteil abgeben zu können (S. 93, 98, 351).

Schauen wir uns doch einmal genauer an, wie Sarrazin arbeitet.

Sarrazins zentrale These lautet, „dass Deutschland kleiner und dümmer wird“ (S. 17). Die Begründung findet sich auf Seite 91f.: Intelligenz sei, so Sarrazin, „zu 50 bis 80 Prozent erblich“. Es seien aber die wenig intelligenten Angehörigen der Unterschicht sowie die wenig intelligenten (Sarrazin sagt „bildungsfernen“) Migranten „aus der Türkei, dem Nahen Osten und aus Afrika“, die im Gegensatz zu den intelligenten Angehörigen der deutschen Oberschicht besonders hohe Geburtenziffern aufwiesen. „Deshalb bedeutet ein schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt. Dieser qualitative Effekt wirkt sich langfristig entscheidend auf die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft aus.“ (S. 91f.)

Besonders deutlich wird Sarrazin auf Seite 353:
„Die qualitativen Verschiebungen in der Geburtenentwicklung Deutschlands und deren langfristige Folgen, nämlich
–          relative Zunahme bildungsferner autochthoner Schichten
–          Zunahme des Anteils bildungsferner Migranten
–          starke Abnahme der Nachfahren bildungsnaher Schichten
–          homogame Partnerwahl der bildungsnahen Schichten

bewirken, dass der Anteil wie auch die Anzahl der intelligenteren Glieder in der deutschen Gesellschaft abnehmen wird, während der Anteil der nach heutigen Maßstäben unterdurchschnittliche Intelligenten wächst.“

Schauen wir uns einmal genauer an, mit welchen „Zahlen und Analysen“ Sarrazin seine Behauptungen zu belegen versucht.

Da heißt es auf S. 91 „Bei den Migranten wurde bereits gezeigt, dass jene Migrantengruppen besonders viele Nachkommen haben, die als besonders bildungsfern eingestuft werden müssen, also vor allem die Migranten aus der Türkei, dem Nahen Osten und aus Afrika (vgl. Tabelle 3.1).“ Die Formulierung „wurde bereits gezeigt“ sowie der Verweis auf Tabelle 3.1 erwecken den Eindruck, als habe er diese These mit „Daten und Fakten“ belegt. Der durchschnittliche Leser wird sich an dieser Stelle nicht mehr an Tabelle 3.1 erinnern können, denn sie ist 30 Seiten vorher abgedruckt. Macht man sich aber die Mühe,  Tabelle 3.1 nachzublättern, so erkennt man, dass Tabelle 3.1 die These überhaupt nicht belegt, sondern lediglich aufführt, wie viele Migranten aus welchem Land kommen und welche Altersverteilung sie haben.

Dass Sarrazin keine „Daten und Fakten“ zitiert, hat seinen Grund: Die Daten stützen seine These nämlich nicht. So ist die Fruchtbarkeitsziffer der türkischen Migrantinnen in Deutschland zwischen 1975 und 1993 von 4,3 auf 2,5 Kinder zurückgegangen, bei Türkinnen in der Türkei im gleichen Zeitraum von 5,1 auf 2,8 Kinder.[4] Der große Unterschied tritt zwischen der ersten und der zweiten Zuwanderergeneration auf. Liegt bei den türkischen Migrantinnen der ersten Generation der Anteil der Frauen mit mehr als zwei Kindern noch bei 59%, so haben nur noch 34 % der türkischen Migrantinnen der zweiten Generation mehr als zwei Kinder.[5]

Diese Erscheinung gehört zum Standardwissen der Demographie und wird als „demographischer Übergang“ bezeichnet. In vorindustriellen Gesellschaften ohne staatliche soziale Sicherungssysteme ist die Geburtenziffer hoch, weil Kinder die Altersversorgung bilden und wegen der hohen Kindersterblichkeit auch viele Kinder geboren werden müssen. In Industriegesellschaften mit leistungsfähiger sozialer Sicherung sinkt die Geburtenziffer eine Generation, nachdem die Kindersterblichkeit zurückgegangen ist. In Deutschland hat dieser demographische Übergang zwischen 1890 und 1930 stattgefunden, in der Türkei zwischen 1970 und 2010, und bei den türkischen Zuwanderinnen zwischen der ersten und zweiten Generation auch etwa zwischen 1970 und 2000.

Übrigens passen die Türkinnen ihr generatives Verhalten etwa doppelt so schnell an die in Deutschland übliche Fruchtbarkeit an als die Italienerinnen, bei denen der Anteil der Frauen mit mehr als zwei Kindern zwischen der ersten und der zweiten Gastarbeitergeneration „nur“ von 44% auf 33% gesunken ist.[6] Dieser Befund spricht nicht gerade für Sarrazins wiederholte Ansicht, die Türken stellten eine besonders anpassungsunwillige Migrantengruppe dar.

Die Geburtenrate ist also keine Eigenschaft einer Volksgruppe, wie Sarrazin meint, sondern hängt von dem gesellschaftlichen Umfeld ab, in dem man lebt. Die Migrantinnen, auch diejenigen aus der Türkei, haben ihr generatives Verhalten bereits binnen einer einzigen Generation weitgehend an das der Deutschen angepasst und werden es weiter annähern, bis keine Unterschiede mehr feststellbar sind.

Ebenfalls auf Seite 91 kommt eine zweite Kernthese: „Intelligenz ist aber zu 50 bis 80 Prozent erblich.“ Die Aussage klingt präzise, wird aber von Sarrazin an dieser Stelle nicht belegt. Stattdessen leitet er aus ihr seine zentrale Schlussfolgerung ab: „Deshalb bedeutet ein schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt.“ (S. 91f.) Dies ist die Kernthese des ganzen Buchs. Was Sarrazin meint, ist klar: Migranten aus der Türkei, dem Nahen Osten und aus Afrika seien von ihrem genetischen Potential her weniger intelligent als Deutsche und würden deshalb dümmere Kinder hervorbringen. Und weil die Intelligenz im wesentlichen erblich sei, könne man auch nichts dagegen tun.

Auf den folgenden Seiten versucht Sarrazin seine Behauptung, dass Intelligenz erblich sei, an mehreren Beispielen zu veranschaulichen. Er beginnt tatsächlich mit dem Hinweis, dass „jeder Hunde- oder Pferdezüchter“ davon lebe, dass Tiere unterschiedlich intelligent seien und dass diese Unterschiede erblich seien (S. 92).

Dann, auf Seite 93, wird die zwei Seiten zuvor geäußerte Behauptung wiederholt: „Unter seriösen Wissenschaftlern besteht heute zudem kein Zweifel mehr, dass die menschliche Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich ist.“ Jetzt wird diese Behauptung mit einer Fußnote belegt (Fußnote 64 zu Kapitel 3). Schlagen wir die Fußnote nach, lesen wir ein wörtliches Zitat aus einer wissenschaftlichen Quelle, die tatsächlich seriös ist.[7]

In der Originalquelle heißt es: „1. Die hohen Langzeitstabilitäten in der Intelligenzleistung, die bereits in der frühen Kindheit um r = .50 betragen und ab der späten Kindheit auf über r = .80 ansteigen, sprechen für das Vorliegen eines stabilen Persönlichkeitsmerkmals.“ (S. 417f.) Hier tauchen also die Werte 0,50 und 0,80 auf – aber es sind keine Prozentsätze, sondern es handelt sich hier um den Produkt-Moment-Korrelationskoeffizienten nach Bravais/Pearson, das in der Statistik am häufigsten verwendete Zusammenhangsmaß. Tatsächlich kann man eine Korrelation auch in Prozent ausdrücken, nämlich wie viel Prozent der Varianz der abhängigen Variable durch die unabhängige erklärt werden. Dieses Maß wird vom Determinationskoeffizienten R2 angegeben, dieser ist aber das Quadrat von r, in unserem Fall also 0,25 und 0,64. Wenn hier etwas variiert, dann ist es nicht zwischen 50 bis 80 Prozent, sondern zwischen 25 und 64 Prozent.

Genau der gleiche Fehler, nämlich r mit R2 zu verwechseln, findet sich auf Seite 98. Auch hier spricht Sarrazin von einer Korrelation der Intelligenz getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge von „78 Prozent“. Die Fachliteratur[8] spricht dagegen von Korrelationskoeffizienten von r = 0,67 (was einem R2 von 45% entspricht) bis r = 0,78 (R2 = 61%), was auch nicht übermäßig viel sagt, weil die sozioökonomischen Kontexte, in denen getrennte Zwillinge aufwachsen, häufig im Hinblick auf die Lernbedingungen nicht dramatisch unterschiedlich sind, zumindest keine Migrationserfahrung beinhalten.

Der Unterschied zwischen den Koeffizienten r und R2 ist keine höhere Wissenschaft, sondern Gegenstand jeder Einführung in die Statistik, wie sie Thilo Sarrazin in seinem Volkswirtschaftsstudium absolviert hat. Deshalb kann man hier wohl davon ausgehen, dass es sich um eine bewusste Irreführung des wissenschaftlich nicht vorgebildeten Lesers handelt.

Noch bedeutsamer ist, dass der zitierte Satz Sarrazins Behauptung auch inhaltlich nicht stützt. Bei der zitierten Korrelation geht es überhaupt nicht darum, wie viel Intelligenz erblich ist, sondern lediglich darum, dass Intelligenz ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal darstellt, das sich in der Entwicklung eines Kindes nur wenig ändert, und zwar umso weniger, je älter das Kind ist, oder, im Umkehrschluss, umso stärker, je jünger das Kind ist. Bei jüngeren Kindern gibt es also – positive oder negative – Einflüsse auf die Entwicklung der Intelligenz, die über die erbliche Veranlagung hinausgehen. Das ist aber genau das Gegenteil von dem, was Sarrazin behauptet.

Das Zitat in Fußnote 64 geht weiter und scheint auf den ersten Blick Sarrazins Behauptung zu stützen: „2. In Kulturkreisen, in denen Kindern weitgehend alle Lerngelegenheiten offen stehen, können mindestens 50% der Varianz in der Intelligenztestleistung durch die genetischen Unterschiede erklärt werden.“ (S. 418) Ausgerechnet die Einschränkung, die die Autoren vornehmen, ist aber für Sarrazins Argumentation zentral: Die Erblichkeit der Intelligenz gilt nur, wenn den Kindern alle Lerngelegenheiten offen stehen.

Dass dies für Migrantenkinder und Kinder aus sozial schwachen Familien gerade nicht der Fall ist, hat die von Sarrazin an anderer Stelle durchaus zu Kenntnis genommene PISA-Studie eindrucksvoll bestätigt: In keinem anderen Land haben Migrantenkinder und Kinder aus sozial schwachen Familien so schlechte Chancen, ihre angeborene Intelligenz zu entwickeln wie in Deutschland.[9] In anderen Ländern können Migrantenkinder deutlich bessere Bildungserfolge erreichen.

Es ist genau die PISA-Studie, die belegt, dass die schlechten Bildungserfolge von Migrantenkindern eben nicht erblich sind. Vielmehr spielen zwei Faktoren eine Rolle:

Erstens die mangelhafte Frühförderung der Kinder durch die Eltern, die durch die Migrationssituation und/oder durch Sprachbarrieren nicht in der Lage sind, die Intelligenzentwicklung von Kleinkindern in dem Maße zu fördern, in dem das in Familien der Mittelschicht üblich ist oder das durch die stärker auf Bildung ausgerichteten Vorschuleinrichtungen in anderen Ländern erfolgt.

Und zweitens das deutsche Schulsystem, das nicht in der Lage ist, Kindern, die bei der Einschulung nur mangelhaft deutsch sprechen, gute Bildungschancen zu bieten. Ein sechsjähriges türkisches Kind, das kaum deutsch spricht, wird auch im Sachkunde- und Rechenunterricht scheitern, weil es dem Unterricht nicht folgen kann. In dem auf Selektion und nicht auf Förderung ausgerichteten Schulsystem entsteht so in der Grundschulzeit ein Lernrückstand, der nicht mehr aufgeholt werden kann. Die Talente, die Migrantenkinder mitbringen, werden durch die Unzulänglichkeiten des deutschen Schulsystems systematisch vergeudet.

Der Harvard-Professor Richard Lewontin hat den Zusammenhang zwischen angeborener Intelligenz und sozialem Umfeld mit folgender Analogie veranschaulicht:

Man stelle sich vor, man teile einen Sack mit Weizenkörnern zufällig in zwei Hälften und streue die eine Hälfte auf fruchtbaren, die andere Hälfte auf unfruchtbaren Boden. Betrachtet man nur den fruchtbaren Acker, so wird man, nachdem die Pflanzen ausgewachsen sind, Unterschiede in der Größe der Ähren feststellen und diese richtigerweise auf genetische Unterschiede der Samenkörner zurückführen. Betrachtet man die insgesamt mickrigeren Halme auf dem unfruchtbaren Acker wird man dort ebenfalls genetisch bedingte Unterschiede finden. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Größe der Ähren auf dem fruchtbaren und dem unfruchtbaren Boden ebenfalls genetisch bedingt sind.

Genau diesen Fehlschluss begeht Sarrazin. Er sieht die Unterschiede zwischen den Bildungsleistungen deutschstämmiger und türkischstämmiger Schüler und führt diese auf genetische Unterschiede zurück, obwohl er weiß, dass es die Migrantenkinder – allein aufgrund der Sprachbarrieren – im Schulsystem viel schwerer haben.

In der psychologischen Fachliteratur ist natürlich zu lesen, dass ein Teil der Intelligenz angeboren ist. Aber Erziehung und Bildung können für eine Variation von immerhin 20 IQ-Punkten verantwortlich sein – das entspricht dem Unterschied zwischen einem durchschnittlichen Hauptschüler und einem durchschnittlichen Abiturienten.[10]

Als Kronzeugen für seine Argumente führt Sarrazin die US-amerikanischen Autoren Herrnstein und Murray an, die er wiederholt zitiert (Fußnote 61, 78, 79, 84, 86, 87, 88).[11] Mit diesen Autoren versucht Sarrazin folgende Aussagen zu belegen:

  • Frauen, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, tendierten dazu, „die Schar ihrer Kinder noch zu vergrößern“ (S. 91).
  • Intelligenz sei teilweise erblich und nicht auf die sozialen und politischen Verhältnisse zurückzuführen (S. 97).
  • Der Einfluss der (angeborenen) Intelligenz auf den Schulerfolg sei größer als der des sozio-ökonomischen Hintergrunds (S. 97).
  • Der gemessene Zusammenhang der Intelligenz von Ehepaaren liege zwischen 40 und 45 Prozent (wieder der Fehler, Korrelationen in Prozenten zu messen) (S. 99).
  • Es gebe eine 90prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer Unterschichtsfamilie mit einem Durchschnitts-IQ der Armut entkommt (S. 99).

Durch das häufige Zitieren dieser Quelle erweckt Sarrazin den Eindruck, er stütze sich auf seriöse Forschungsergebnisse. Formulierungen wie „es lässt sich zeigen, dass…“ (S. 97) legen dem Leser nahe, es handele sich um allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse. Aber welche Quelle hat Sarrazin sich da ausgesucht, die er derart prominent in den Mittelpunkt seines Buchs stellt?

  • Professor Michael Nunley, Anthropologe an der University of Oklahoma, schrieb: “Ich glaube, dieses Buch ist eine Fälschung, und die Autoren müssen es gewusst haben … Nach sorgfältigem Lesen kann ich nicht glauben, dass es den Autoren nicht bewusst war, wie sie ihr Material verfälscht haben.“
  • Professor Leon Kamin, ehemaliger Dekan der Fakultät für Psychologie der Princeton University, nannte das Buch „einen Missbrauch der Wissenschaft.”
  • Professor Howard Gardner, Psychologe an der Harvard University, Graduate School of Education, bezeichnete das Buch als “ein akademisches Spiel mit dem Feuer“, weil die Autoren selber nie sagen, dass Intelligenz angeboren ist, dass sie aber den Leser verleiten, eben dies zu folgern (was Sarrazin auch tut).
  • Der Journalist Bob Herbert beschrieb das Buch in der New York Times gar als “ein geschmackloses Stück rassischer Pornographie, das sich als seriöse Wissenschaft maskiert.“[12]

Diese Aussagen dokumentieren, dass Sarrazins Quelle höchst umstritten ist. Das war ihm selber nicht entgangen, wie er in einer Fußnote anmerkt. Aber wie geht Sarrazin mit dieser Kritik um? „Dieses sehr erfolgreiche Buch löste eine heftige Diskussion aus und traf auf eine große Welle öffentlicher Kritik. Diese konzentrierte sich aber auf das Grundsätzliche und Ideologische.“ (S. 419)

Das ist ein weiterer Beleg für Sarrazins Methode, jegliche Kritik an seinen Thesen als „ideologisch“ abzuqualifizieren. Tatsächlich war die Kritik an Herrnstein/Murray alles andere als ideologisch.

Ein Team von Wissenschaftlern der University of California, Berkeley, prüfte die statistische Methodologie von Herrnstein/Murray und kam zur Schlussfolgerung, dass die von Sarrazin behauptete These, dass (angeborene) Intelligenz wichtiger sei als die sozio-ökonomische Herkunft, im wesentlichen ein Effekt einer von Herrnstein/Murray vorgenommenen Datenmanipulation sei.[13]

Sanders Korenman vom National Bureau of Economic Research und Christopher Winship von der Harvard University wiesen ebenfalls gravierende methodische Fehler nach.[14]

Und James Heckmann, immerhin Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, kritisierte, dass Herrnstein/Murray mit der Absicht, ihre Theorie zu stützen, das falsche Testverfahren für die Intelligenzmessung benutzt haben, obwohl sie wussten, dass ein besseres zur Verfügung gestanden hätte.[15]

Diese Kritiken kann man wohl kaum als „grundsätzlich“ oder „ideologisch“ bezeichnen.

Am Ende setzte die zuständige wissenschaftliche Fachgesellschaft, die American Psychologist Association, sogar eine Task Force ein, um Herrnstein/Murrays Thesen (auf die sich Sarrazin stützt) zu überprüfen. Zur Frage, ob es angeborene Intelligenzunterschiede zwischen Rassen gibt (was Sarrazin im Anschluss an Herrnstein/Murray behauptet), kam die Fachgesellschaft zu folgender Schlussfolgerung:

“Es gibt nicht viele direkte Belege zu diesem Punkt, aber das wenige, das es gibt, unterstützt nicht die genetische Hypothese.”[16] Eine beachtenswerte Untersuchung zu diesem Thema stammte übrigens aus Deutschland: Bei Kindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Verbindungen zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen hervorgingen, gab es keine Unterschiede in der Intelligenz zwischen den Kindern weißer und schwarzer Väter.[17] Schwarze Kinder, die in Ghettos aufwuchsen, hatten schlechte Testergebnisse, schwarze Kinder, die in deutsche Schulen gingen, dagegen nicht.

Sarrazin scheut nicht davor zurück, seine Behauptung, Intelligenz sei erblich, mit dem Verweis auf die angeblichen Erbmerkmale von Juden zu begründen (S. 93 bis 97). Sarrazin behauptet allen Ernstes, „bereits die frühe Intelligenzforschung“ habe bei Juden europäischer Provenienz einen um 15 Punkte höheren IQ festgestellt (S. 93, wiederholt auf S. 97). Eine Quelle für diese Behauptung nennt er nicht. Stattdessen führt er überproportionale Anteile von Juden unter Wissenschaftlern und Künstlern als Beleg an, die er in sozialdarwinistischer Manier durch hohen „Selektionsdruck“ (S. 95) erklärt.

Dass Juden intelligenter seien, ist ein klassisches antisemitisches Vorurteil, das direkt zur nationalsozialistischen Judenvernichtung beigetragen hat.[18]

Interessanterweise steht diese deutsche Sicht in striktem Kontrast zu Erkenntnissen aus den USA. Dort haben nämlich Juden zur Zeit des Ersten Weltkriegs (als erstmals massenhaft Intelligenztests durchgeführt wurden) in den Tests regelmäßig eine niedrigere Intelligenz gezeigt als der amerikanische Durchschnitt, wie überhaupt europäische Einwanderer – also auch Deutsche – eine geringere Intelligenz gezeigt hatten.[19] Einen klareren Beleg, dass Intelligenz keine Frage der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe oder Rasse, sondern eine Frage der sozio-ökonomischen Lebensumstände und Bildungschancen ist, kann es wohl kaum geben. Im übrigen ist die Erklärung für den hohen Judenanteil unter Wissenschaftlern und Künstlern ziemlich nahe liegend: Während talentierte Nichtjuden in Militär und Verwaltung Karriere machen konnten, blieb talentierten Juden nur die Option, in das Bankwesen, die Wissenschaft oder die Kunst zu gehen, weil diese Bereiche weitgehend frei von Diskriminierung waren.

Türkischstämmige (und arabischstämmige und afrikanischstämmige etc.) Migranten in Deutschland weisen nicht deshalb im Durchschnitt schlechtere Bildungsergebnisse auf, weil sie, wie Sarrazin behauptet, eine schlechtere genetische Veranlagung hätten, sondern weil das deutsche Bildungssystem nicht in der Lage ist, die besonderen Belastungen der Migrationssituation auszugleichen.

Von den „Daten und Fakten“, die Sarrazin bringen will, bleibt nach gründlicher Analyse nicht mehr viel übrig. Vielmehr ist das Buch von Verfälschungen, Unterschlagung von Wissen, zweifelhaften Quellen und Fehlschlüssen geprägt.

  • Verfälschend ist beispielsweise die Praxis, Korrelationskoeffizienten als Prozente auszugeben, um sie nach oben zu manipulieren. Eine Verfälschung ist auch, „angeboren“ mit „erblich“ zu verwechseln.
  • Unterschlagen werden beispielsweise die statistischen Daten zur Angleichung des generativen Verhaltens oder zu den Auswirkungen von Förderung und Erziehung auf Intelligenz und Bildungsleistungen.
  • Zweifelhafte Quellen sind extrem umstrittene Arbeiten wie die von Herrnstein/Murray oder wie die des auf S. 353 zitierten Eugenikers Richard Lynn.
  • Ein Fehlschluss ist, dass die schlechten Bildungsleistungen von Migranten- oder Unterschichtskindern auf erbliche Intelligenzdefizite bestimmter Bevölkerungsgruppen zurückzuführen seien. Ein Fehlschluss ist auch die zentrale These, dass die deutsche Bevölkerung immer dümmer werden würde, weil die Prämisse, dass die Migranten und Unterschichtsangehörigen weniger intelligente Erbanlagen hätten, nicht zutrifft.

Worauf Sarrazin mit seinem Buch abzielt, lässt sich auf Seite 93 lesen. Dort schreibt er, dass die evangelische Kirche seit der Reformation „die intelligentesten Knaben für die geistliche Laufbahn ausgewählt“ habe. Da „evangelische Pfarrersfamilien traditionell sehr kinderreich“ gewesen seien, habe sich diese Auslese darin niedergeschlagen, dass ein Pool von besonders intelligenten Menschen gezüchtet worden sei, aus dem sich „ein erstaunlich großer Teil der deutschen wissenschaftlichen Elite“ rekrutiert habe, während die katholische Kirche durch den Zölibat die Vermehrung der Intelligenzgene verhindert habe.

Abgesehen davon, dass diese Behauptungen (wieder einmal) nicht belegt und im übrigen auch falsch sind (nicht die evangelische Kirche hat Knaben ausgewählt, sondern häufig wurden die drittgeborenen Knaben von ihren Eltern in die geistliche Laufbahn entsandt), legt diese Passage Sarrazins Vorstellung von einem idealen Deutschland offen: Ein totalitäres System, das Menschen mit ihren Erbanlagen so züchtet, wie dies Hunde- und Pferdezüchter tun. Das nennt sich „Eugenik“ – der Erfinder dieses Begriffs, Francis Galton, wird von Sarrazin hoch gelobt (S. 92f.) – oder auf deutsch „Rassenhygiene“ und diente zur Zeit des Nationalsozialismus zur Rechtfertigung von Zwangssterilisierungen, Euthanasie und Völkermord.

Kontakt:
Prof. Dr. Volker Eichener
Rektor der EBZ Business School – University of Applied Sciences
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Tel. 0234-9447-700
mobil 0171-69 56 55 0
v.eichener@ebz-bs.de
www.ebz-business-school.de


[1] http://www.bild.de/BILD/politik/2010/08/23/thilo-sarrazin/deutschland-immer-aermer-und-duemmer.html, zugegegriffen am 29.8.2010.

 

[2] http://www.amazon.de/Deutschland-schafft-sich-unser-setzen/dp/3421044309/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1283114738&sr=8-1, zugegriffen am 29.8.2010.

[3] http://www.amazon.de. Kundenrezensionen zum Buch von Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Abgerufen am 28.8.2010.

[4] Nadja Milewski: Fertility of Immigrants. A Two-Generational Approach in Germany. Diss., Heidelberg et. al. 2010, S. 59.

[5] Ebda., S. 98.

[6] Ebda.

[7] Elsbeth Stern/Jürgen Guthke: Perspektiven der Intelligenzforschung. Lengerich 2001, S. 9.

[8] Amelang, M. et al: Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie. 6. Auflage Stuttgart 2006, S. 463; Asendorpf, J.: Psychologie der Persönlichkeit. 4.Aufl. Heidelberg 2007.

[9] Jürgen Baumert u. a.: PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Deutsches PISA-Konsortium. Opladen 2001.

[10] Gerhard Roth: Wer oder was bestimmt unser Handeln? Beobachtungen zur Zeit Nr. 7, Warburg, 2006, S. 9.

[11] Herrnstein, Richard/Murray, Charles: The Bell Curve – Intelligence and Class Structure in America. New York 1994.

[12] Alle Zitate nach http://en.wikipedia.org/wiki/The_Bell_Curve, eigene Übersetzung.

[13] Claude S. Fischer, Michael Hout, Martín Sánchez Jankowski, Samuel R. Lucas, Ann Swidler, & Kim Voss: Inequality by Design: Cracking the Bell Curve Myth. Princeton 1996.

[14] Korenman, Sanders and Winship, Christopher: A Reanalysis of The Bell Curve”. NBER Working Paper Series, Vol. w5230, 1995.

[15] Heckman, James J.: Lessons from the Bell Curve. Journal of Political Economy 103 (5), 1995, S. 1091–1120.

[16] Ulrich Neisser et al.: Intelligence: Knowns and Unknowns. American Psychologist, February 1996,  S. 95.

[17] Ebda.

[18] vgl. Sander L. Gilman: Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil. Berlin 1998.

[19] Sowell, Thomas: Ethnicity and IQ. The American Spectator 28 (2), 1995.

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Ich möchte nochmals betonen daß jedwedes Recht an diesem Text bei der Quelle liegt.