Zum Beginn darf ich hier einen anderen Blog zitieren um meinen eigenen zu starten. Die Quelle hat sich besonders in den Kommentaren leidlich viel Mühe gegeben, die anbrandende Diskussion zu führen. Kommentare daher bitte dort posten, mir dient dies nur als Aufhänger und als Test für den Blog und die Software als solches.
Manipulation und Fälschung im Buch „Deutschland schafft sich ab“
Das Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel  setzen“ von Thilo Sarrazin ist bereits erfolgreich, bevor es erschienen  ist. Nicht weniger als 93% von 122.689 Lesern von www.bild.de, wo  Vorabauszüge aus dem Buch erschienen waren, halten Sarrazins Thesen für  richtig, darunter eine winzige Minderheit, die lediglich die  Formulierungen für zu hart hält.[1] Auf www.amazon.de sind bereits am  Vorabend des Erscheinens, am 29.8.2010, nicht weniger als 85% der  Kundenrezensionen mit der Bestnote „5 Sterne“ versehen worden.[2]
Sarrazin behauptet wiederholt, er würde sich mit seinem Buch auf  „empirische Erhebungen“ (S. 11) stützen und im Gegensatz zu „jener Kaste  von Wissenschaftlern, Politikern und Verbandsfunktionären“ – für  Sarrazin eine Art Horrorkabinett – „Daten und Fakten“ (S. 86) sowie  „Zahlen und Analysen“ (S. 391) anführen, die seine Thesen belegen  würden.
Immer wieder erweckt Sarrazin den Eindruck, Andersdenkende seien  „Beschwichtiger und Verharmloser“ (S. 8), „politisch korrekt“ (S. 10,  18), „gefühlsbetont“ (S. 89), „selbstgerecht“ (S. 86) und vor allem  „unvernünftig“ (S. 8, 207, 329, 377) und „unrealistisch“ (S. 11, 19,  49).
Tatsächlich enthält das Buch eine ganze Menge an Statistiken, die  ihre Wirkung auf die Leser nicht verfehlt. So schreibt etwa ein  Laienrezensent auf www.amazon.de „Alles was in diesem Buch steht ist  statistisch belegt und unstrittig.“ Immerhin 75% der Kommentatoren  fanden diese Rezension „hilfreich“. Eine zweite Rezension – 87%  „hilfreich“ – schreibt: „Sarrazin belegt seine Thesen mit realen Fakten  und Zahlen.“[3] Darüber hinaus erweckt Sarrazin den Anschein, sich auf  anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen. Das Buch weist  einen umfangreichen Fußnotenapparat auf, und Sarrazin verwendet immer  wieder Formulierungen wie „es lässt sich zeigen, dass…“, „empirische  Evidenz“, „aktueller Forschungsstand“ oder „in der Sache unstreitig“,  die bei dem Leser den Eindruck erwecken, Sarrazin stütze sich auf den  Stand der Forschung. An einigen Stellen maßt Sarrazin sich sogar an,  über die „Seriösität“ von Wissenschaft ein Urteil abgeben zu können (S.  93, 98, 351).
Schauen wir uns doch einmal genauer an, wie Sarrazin arbeitet.
Sarrazins zentrale These lautet, „dass Deutschland kleiner und dümmer  wird“ (S. 17). Die Begründung findet sich auf Seite 91f.: Intelligenz  sei, so Sarrazin, „zu 50 bis 80 Prozent erblich“. Es seien aber die  wenig intelligenten Angehörigen der Unterschicht sowie die wenig  intelligenten (Sarrazin sagt „bildungsfernen“) Migranten „aus der  Türkei, dem Nahen Osten und aus Afrika“, die im Gegensatz zu den  intelligenten Angehörigen der deutschen Oberschicht besonders hohe  Geburtenziffern aufwiesen. „Deshalb bedeutet ein schichtabhängig  unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das  vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung kontinuierlich  verdünnt. Dieser qualitative Effekt wirkt sich langfristig entscheidend  auf die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft aus.“ (S. 91f.)
Besonders deutlich wird Sarrazin auf Seite 353:
„Die qualitativen Verschiebungen in der Geburtenentwicklung Deutschlands und deren langfristige Folgen, nämlich
–          relative Zunahme bildungsferner autochthoner Schichten
–          Zunahme des Anteils bildungsferner Migranten
–          starke Abnahme der Nachfahren bildungsnaher Schichten
–          homogame Partnerwahl der bildungsnahen Schichten
bewirken, dass der Anteil wie auch die Anzahl der intelligenteren  Glieder in der deutschen Gesellschaft abnehmen wird, während der Anteil  der nach heutigen Maßstäben unterdurchschnittliche Intelligenten  wächst.“
Schauen wir uns einmal genauer an, mit welchen „Zahlen und Analysen“ Sarrazin seine Behauptungen zu belegen versucht.
Da heißt es auf S. 91 „Bei den Migranten wurde bereits gezeigt, dass  jene Migrantengruppen besonders viele Nachkommen haben, die als  besonders bildungsfern eingestuft werden müssen, also vor allem die  Migranten aus der Türkei, dem Nahen Osten und aus Afrika (vgl. Tabelle  3.1).“ Die Formulierung „wurde bereits gezeigt“ sowie der Verweis auf  Tabelle 3.1 erwecken den Eindruck, als habe er diese These mit „Daten  und Fakten“ belegt. Der durchschnittliche Leser wird sich an dieser  Stelle nicht mehr an Tabelle 3.1 erinnern können, denn sie ist 30 Seiten  vorher abgedruckt. Macht man sich aber die Mühe,  Tabelle 3.1  nachzublättern, so erkennt man, dass Tabelle 3.1 die These überhaupt  nicht belegt, sondern lediglich aufführt, wie viele Migranten aus  welchem Land kommen und welche Altersverteilung sie haben.
Dass Sarrazin keine „Daten und Fakten“ zitiert, hat seinen Grund: Die  Daten stützen seine These nämlich nicht. So ist die  Fruchtbarkeitsziffer der türkischen Migrantinnen in Deutschland zwischen  1975 und 1993 von 4,3 auf 2,5 Kinder zurückgegangen, bei Türkinnen in  der Türkei im gleichen Zeitraum von 5,1 auf 2,8 Kinder.[4] Der große  Unterschied tritt zwischen der ersten und der zweiten  Zuwanderergeneration auf. Liegt bei den türkischen Migrantinnen der  ersten Generation der Anteil der Frauen mit mehr als zwei Kindern noch  bei 59%, so haben nur noch 34 % der türkischen Migrantinnen der zweiten  Generation mehr als zwei Kinder.[5]
Diese Erscheinung gehört zum Standardwissen der Demographie und wird  als „demographischer Übergang“ bezeichnet. In vorindustriellen  Gesellschaften ohne staatliche soziale Sicherungssysteme ist die  Geburtenziffer hoch, weil Kinder die Altersversorgung bilden und wegen  der hohen Kindersterblichkeit auch viele Kinder geboren werden müssen.  In Industriegesellschaften mit leistungsfähiger sozialer Sicherung sinkt  die Geburtenziffer eine Generation, nachdem die Kindersterblichkeit  zurückgegangen ist. In Deutschland hat dieser demographische Übergang  zwischen 1890 und 1930 stattgefunden, in der Türkei zwischen 1970 und  2010, und bei den türkischen Zuwanderinnen zwischen der ersten und  zweiten Generation auch etwa zwischen 1970 und 2000.
Übrigens passen die Türkinnen ihr generatives Verhalten etwa doppelt  so schnell an die in Deutschland übliche Fruchtbarkeit an als die  Italienerinnen, bei denen der Anteil der Frauen mit mehr als zwei  Kindern zwischen der ersten und der zweiten Gastarbeitergeneration „nur“  von 44% auf 33% gesunken ist.[6] Dieser Befund spricht nicht gerade für  Sarrazins wiederholte Ansicht, die Türken stellten eine besonders  anpassungsunwillige Migrantengruppe dar.
Die Geburtenrate ist also keine Eigenschaft einer Volksgruppe, wie  Sarrazin meint, sondern hängt von dem gesellschaftlichen Umfeld ab, in  dem man lebt. Die Migrantinnen, auch diejenigen aus der Türkei, haben  ihr generatives Verhalten bereits binnen einer einzigen Generation  weitgehend an das der Deutschen angepasst und werden es weiter annähern,  bis keine Unterschiede mehr feststellbar sind.
Ebenfalls auf Seite 91 kommt eine zweite Kernthese: „Intelligenz ist  aber zu 50 bis 80 Prozent erblich.“ Die Aussage klingt präzise, wird  aber von Sarrazin an dieser Stelle nicht belegt. Stattdessen leitet er  aus ihr seine zentrale Schlussfolgerung ab: „Deshalb bedeutet ein  schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch,  dass sich das vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung  kontinuierlich verdünnt.“ (S. 91f.) Dies ist die Kernthese des  ganzen Buchs. Was Sarrazin meint, ist klar: Migranten aus der Türkei,  dem Nahen Osten und aus Afrika seien von ihrem genetischen Potential her  weniger intelligent als Deutsche und würden deshalb dümmere Kinder  hervorbringen. Und weil die Intelligenz im wesentlichen erblich sei,  könne man auch nichts dagegen tun.
Auf den folgenden Seiten versucht Sarrazin seine Behauptung, dass  Intelligenz erblich sei, an mehreren Beispielen zu veranschaulichen. Er  beginnt tatsächlich mit dem Hinweis, dass „jeder Hunde- oder  Pferdezüchter“ davon lebe, dass Tiere unterschiedlich intelligent seien  und dass diese Unterschiede erblich seien (S. 92).
Dann, auf Seite 93, wird die zwei Seiten zuvor geäußerte Behauptung  wiederholt: „Unter seriösen Wissenschaftlern besteht heute zudem kein  Zweifel mehr, dass die menschliche Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent  erblich ist.“ Jetzt wird diese Behauptung mit einer Fußnote belegt  (Fußnote 64 zu Kapitel 3). Schlagen wir die Fußnote nach, lesen wir ein  wörtliches Zitat aus einer wissenschaftlichen Quelle, die tatsächlich  seriös ist.[7]
In der Originalquelle heißt es: „1. Die hohen Langzeitstabilitäten in  der Intelligenzleistung, die bereits in der frühen Kindheit um r = .50  betragen und ab der späten Kindheit auf über r = .80 ansteigen, sprechen  für das Vorliegen eines stabilen Persönlichkeitsmerkmals.“ (S. 417f.)  Hier tauchen also die Werte 0,50 und 0,80 auf – aber es sind keine  Prozentsätze, sondern es handelt sich hier um den  Produkt-Moment-Korrelationskoeffizienten nach Bravais/Pearson, das in  der Statistik am häufigsten verwendete Zusammenhangsmaß. Tatsächlich  kann man eine Korrelation auch in Prozent ausdrücken, nämlich wie viel  Prozent der Varianz der abhängigen Variable durch die unabhängige  erklärt werden. Dieses Maß wird vom Determinationskoeffizienten R2 angegeben, dieser ist aber das Quadrat von r, in unserem Fall also 0,25  und 0,64. Wenn hier etwas variiert, dann ist es nicht zwischen 50 bis  80 Prozent, sondern zwischen 25 und 64 Prozent.
Genau der gleiche Fehler, nämlich r mit R2 zu verwechseln,  findet sich auf Seite 98. Auch hier spricht Sarrazin von einer  Korrelation der Intelligenz getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge  von „78 Prozent“. Die Fachliteratur[8] spricht dagegen von  Korrelationskoeffizienten von r = 0,67 (was einem R2 von 45% entspricht) bis r = 0,78 (R2 = 61%), was auch nicht übermäßig viel sagt, weil die sozioökonomischen  Kontexte, in denen getrennte Zwillinge aufwachsen, häufig im Hinblick  auf die Lernbedingungen nicht dramatisch unterschiedlich sind, zumindest  keine Migrationserfahrung beinhalten.
Der Unterschied zwischen den Koeffizienten r und R2 ist  keine höhere Wissenschaft, sondern Gegenstand jeder Einführung in die  Statistik, wie sie Thilo Sarrazin in seinem Volkswirtschaftsstudium  absolviert hat. Deshalb kann man hier wohl davon ausgehen, dass es sich  um eine bewusste Irreführung des wissenschaftlich nicht vorgebildeten  Lesers handelt.
Noch bedeutsamer ist, dass der zitierte Satz Sarrazins Behauptung  auch inhaltlich nicht stützt. Bei der zitierten Korrelation geht es  überhaupt nicht darum, wie viel Intelligenz erblich ist, sondern  lediglich darum, dass Intelligenz ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal  darstellt, das sich in der Entwicklung eines Kindes nur wenig ändert,  und zwar umso weniger, je älter das Kind ist, oder, im Umkehrschluss,  umso stärker, je jünger das Kind ist. Bei jüngeren Kindern gibt es also –  positive oder negative – Einflüsse auf die Entwicklung der Intelligenz,  die über die erbliche Veranlagung hinausgehen. Das ist aber genau das  Gegenteil von dem, was Sarrazin behauptet.
Das Zitat in Fußnote 64 geht weiter und scheint auf den ersten Blick  Sarrazins Behauptung zu stützen: „2. In Kulturkreisen, in denen Kindern  weitgehend alle Lerngelegenheiten offen stehen, können mindestens 50%  der Varianz in der Intelligenztestleistung durch die genetischen  Unterschiede erklärt werden.“ (S. 418) Ausgerechnet die Einschränkung,  die die Autoren vornehmen, ist aber für Sarrazins Argumentation zentral:  Die Erblichkeit der Intelligenz gilt nur, wenn den Kindern alle  Lerngelegenheiten offen stehen.
Dass dies für Migrantenkinder und Kinder aus sozial schwachen  Familien gerade nicht der Fall ist, hat die von Sarrazin an anderer  Stelle durchaus zu Kenntnis genommene PISA-Studie eindrucksvoll  bestätigt: In keinem anderen Land haben Migrantenkinder und Kinder aus  sozial schwachen Familien so schlechte Chancen, ihre angeborene  Intelligenz zu entwickeln wie in Deutschland.[9] In anderen Ländern  können Migrantenkinder deutlich bessere Bildungserfolge erreichen.
Es ist genau die PISA-Studie, die belegt, dass die schlechten  Bildungserfolge von Migrantenkindern eben nicht erblich sind. Vielmehr  spielen zwei Faktoren eine Rolle:
Erstens die mangelhafte Frühförderung der Kinder durch die Eltern,  die durch die Migrationssituation und/oder durch Sprachbarrieren nicht  in der Lage sind, die Intelligenzentwicklung von Kleinkindern in dem  Maße zu fördern, in dem das in Familien der Mittelschicht üblich ist  oder das durch die stärker auf Bildung ausgerichteten  Vorschuleinrichtungen in anderen Ländern erfolgt.
Und zweitens das deutsche Schulsystem, das nicht in der Lage ist,  Kindern, die bei der Einschulung nur mangelhaft deutsch sprechen, gute  Bildungschancen zu bieten. Ein sechsjähriges türkisches Kind, das kaum  deutsch spricht, wird auch im Sachkunde- und Rechenunterricht scheitern,  weil es dem Unterricht nicht folgen kann. In dem auf Selektion und  nicht auf Förderung ausgerichteten Schulsystem entsteht so in der  Grundschulzeit ein Lernrückstand, der nicht mehr aufgeholt werden kann.  Die Talente, die Migrantenkinder mitbringen, werden durch die  Unzulänglichkeiten des deutschen Schulsystems systematisch vergeudet.
Der Harvard-Professor Richard Lewontin hat den Zusammenhang zwischen  angeborener Intelligenz und sozialem Umfeld mit folgender Analogie  veranschaulicht:
Man stelle sich vor, man teile einen Sack mit Weizenkörnern zufällig  in zwei Hälften und streue die eine Hälfte auf fruchtbaren, die andere  Hälfte auf unfruchtbaren Boden. Betrachtet man nur den fruchtbaren  Acker, so wird man, nachdem die Pflanzen ausgewachsen sind, Unterschiede  in der Größe der Ähren feststellen und diese richtigerweise auf  genetische Unterschiede der Samenkörner zurückführen. Betrachtet man die  insgesamt mickrigeren Halme auf dem unfruchtbaren Acker wird man dort  ebenfalls genetisch bedingte Unterschiede finden. Aber das heißt noch  lange nicht, dass die Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Größe  der Ähren auf dem fruchtbaren und dem unfruchtbaren Boden ebenfalls  genetisch bedingt sind.
Genau diesen Fehlschluss begeht Sarrazin. Er sieht die Unterschiede  zwischen den Bildungsleistungen deutschstämmiger und türkischstämmiger  Schüler und führt diese auf genetische Unterschiede zurück, obwohl er  weiß, dass es die Migrantenkinder – allein aufgrund der Sprachbarrieren –  im Schulsystem viel schwerer haben.
In der psychologischen Fachliteratur ist natürlich zu lesen, dass ein  Teil der Intelligenz angeboren ist. Aber Erziehung und Bildung können  für eine Variation von immerhin 20 IQ-Punkten verantwortlich sein – das  entspricht dem Unterschied zwischen einem durchschnittlichen  Hauptschüler und einem durchschnittlichen Abiturienten.[10]
Als Kronzeugen für seine Argumente führt Sarrazin die  US-amerikanischen Autoren Herrnstein und Murray an, die er wiederholt  zitiert (Fußnote 61, 78, 79, 84, 86, 87, 88).[11] Mit diesen Autoren  versucht Sarrazin folgende Aussagen zu belegen:
- Frauen, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, tendierten dazu, „die Schar ihrer Kinder noch zu vergrößern“ (S. 91).
- Intelligenz sei teilweise erblich und nicht auf die sozialen und politischen Verhältnisse zurückzuführen (S. 97).
- Der Einfluss der (angeborenen) Intelligenz auf den Schulerfolg sei größer als der des sozio-ökonomischen Hintergrunds (S. 97).
- Der gemessene Zusammenhang der Intelligenz von Ehepaaren liege  zwischen 40 und 45 Prozent (wieder der Fehler, Korrelationen in  Prozenten zu messen) (S. 99).
- Es gebe eine 90prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus  einer Unterschichtsfamilie mit einem Durchschnitts-IQ der Armut entkommt  (S. 99).
Durch das häufige Zitieren dieser Quelle erweckt Sarrazin den  Eindruck, er stütze sich auf seriöse Forschungsergebnisse.  Formulierungen wie „es lässt sich zeigen, dass…“ (S. 97) legen dem Leser  nahe, es handele sich um allgemein anerkannte wissenschaftliche  Erkenntnisse. Aber welche Quelle hat Sarrazin sich da ausgesucht, die er  derart prominent in den Mittelpunkt seines Buchs stellt?
- Professor Michael Nunley, Anthropologe an der University of  Oklahoma, schrieb: “Ich glaube, dieses Buch ist eine Fälschung, und die  Autoren müssen es gewusst haben … Nach sorgfältigem Lesen kann ich nicht  glauben, dass es den Autoren nicht bewusst war, wie sie ihr Material  verfälscht haben.“
- Professor Leon Kamin, ehemaliger Dekan der Fakultät für Psychologie  der Princeton University, nannte das Buch „einen Missbrauch der  Wissenschaft.”
- Professor Howard Gardner, Psychologe an der Harvard University,  Graduate School of Education, bezeichnete das Buch als “ein akademisches  Spiel mit dem Feuer“, weil die Autoren selber nie sagen, dass  Intelligenz angeboren ist, dass sie aber den Leser verleiten, eben dies  zu folgern (was Sarrazin auch tut).
- Der Journalist Bob Herbert beschrieb das Buch in der New York Times  gar als “ein geschmackloses Stück rassischer Pornographie, das sich als  seriöse Wissenschaft maskiert.“[12]
Diese Aussagen dokumentieren, dass Sarrazins Quelle höchst umstritten  ist. Das war ihm selber nicht entgangen, wie er in einer Fußnote  anmerkt. Aber wie geht Sarrazin mit dieser Kritik um? „Dieses sehr  erfolgreiche Buch löste eine heftige Diskussion aus und traf auf eine  große Welle öffentlicher Kritik. Diese konzentrierte sich aber auf das  Grundsätzliche und Ideologische.“ (S. 419)
Das ist ein weiterer Beleg für Sarrazins Methode, jegliche Kritik an  seinen Thesen als „ideologisch“ abzuqualifizieren. Tatsächlich war die  Kritik an Herrnstein/Murray alles andere als ideologisch.
Ein Team von Wissenschaftlern der University of California, Berkeley,  prüfte die statistische Methodologie von Herrnstein/Murray und kam zur  Schlussfolgerung, dass die von Sarrazin behauptete These, dass  (angeborene) Intelligenz wichtiger sei als die sozio-ökonomische  Herkunft, im wesentlichen ein Effekt einer von Herrnstein/Murray  vorgenommenen Datenmanipulation sei.[13]
Sanders Korenman vom National Bureau of Economic Research und  Christopher Winship von der Harvard University wiesen ebenfalls  gravierende methodische Fehler nach.[14]
Und James Heckmann, immerhin Träger des Nobelpreises für  Wirtschaftswissenschaften, kritisierte, dass Herrnstein/Murray mit der  Absicht, ihre Theorie zu stützen, das falsche Testverfahren für die  Intelligenzmessung benutzt haben, obwohl sie wussten, dass ein besseres  zur Verfügung gestanden hätte.[15]
Diese Kritiken kann man wohl kaum als „grundsätzlich“ oder „ideologisch“ bezeichnen.
Am Ende setzte die zuständige wissenschaftliche Fachgesellschaft, die  American Psychologist Association, sogar eine Task Force ein, um  Herrnstein/Murrays Thesen (auf die sich Sarrazin stützt) zu überprüfen.  Zur Frage, ob es angeborene Intelligenzunterschiede zwischen Rassen gibt  (was Sarrazin im Anschluss an Herrnstein/Murray behauptet), kam die  Fachgesellschaft zu folgender Schlussfolgerung:
“Es gibt nicht viele direkte Belege zu diesem Punkt, aber das wenige,  das es gibt, unterstützt nicht die genetische Hypothese.”[16] Eine  beachtenswerte Untersuchung zu diesem Thema stammte übrigens aus  Deutschland: Bei Kindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus  Verbindungen zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen  hervorgingen, gab es keine Unterschiede in der Intelligenz zwischen den  Kindern weißer und schwarzer Väter.[17] Schwarze Kinder, die in Ghettos  aufwuchsen, hatten schlechte Testergebnisse, schwarze Kinder, die in  deutsche Schulen gingen, dagegen nicht.
Sarrazin scheut nicht davor zurück, seine Behauptung, Intelligenz sei  erblich, mit dem Verweis auf die angeblichen Erbmerkmale von Juden zu  begründen (S. 93 bis 97). Sarrazin behauptet allen Ernstes, „bereits die  frühe Intelligenzforschung“ habe bei Juden europäischer Provenienz  einen um 15 Punkte höheren IQ festgestellt (S. 93, wiederholt auf S.  97). Eine Quelle für diese Behauptung nennt er nicht. Stattdessen führt  er überproportionale Anteile von Juden unter Wissenschaftlern und  Künstlern als Beleg an, die er in sozialdarwinistischer Manier durch  hohen „Selektionsdruck“ (S. 95) erklärt.
Dass Juden intelligenter seien, ist ein klassisches antisemitisches  Vorurteil, das direkt zur nationalsozialistischen Judenvernichtung  beigetragen hat.[18]
Interessanterweise steht diese deutsche Sicht in striktem Kontrast zu  Erkenntnissen aus den USA. Dort haben nämlich Juden zur Zeit des Ersten  Weltkriegs (als erstmals massenhaft Intelligenztests durchgeführt  wurden) in den Tests regelmäßig eine niedrigere Intelligenz  gezeigt als der amerikanische Durchschnitt, wie überhaupt europäische  Einwanderer – also auch Deutsche – eine geringere Intelligenz gezeigt  hatten.[19] Einen klareren Beleg, dass Intelligenz keine Frage der  Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe oder Rasse, sondern eine Frage der  sozio-ökonomischen Lebensumstände und Bildungschancen ist, kann es wohl  kaum geben. Im übrigen ist die Erklärung für den hohen Judenanteil unter  Wissenschaftlern und Künstlern ziemlich nahe liegend: Während  talentierte Nichtjuden in Militär und Verwaltung Karriere machen  konnten, blieb talentierten Juden nur die Option, in das Bankwesen, die  Wissenschaft oder die Kunst zu gehen, weil diese Bereiche weitgehend  frei von Diskriminierung waren.
Türkischstämmige (und arabischstämmige und afrikanischstämmige etc.)  Migranten in Deutschland weisen nicht deshalb im Durchschnitt  schlechtere Bildungsergebnisse auf, weil sie, wie Sarrazin behauptet,  eine schlechtere genetische Veranlagung hätten, sondern weil das  deutsche Bildungssystem nicht in der Lage ist, die besonderen  Belastungen der Migrationssituation auszugleichen.
Von den „Daten und Fakten“, die Sarrazin bringen will, bleibt nach  gründlicher Analyse nicht mehr viel übrig. Vielmehr ist das Buch von  Verfälschungen, Unterschlagung von Wissen, zweifelhaften Quellen und  Fehlschlüssen geprägt.
- Verfälschend ist beispielsweise die Praxis,  Korrelationskoeffizienten als Prozente auszugeben, um sie nach oben zu  manipulieren. Eine Verfälschung ist auch, „angeboren“ mit „erblich“ zu  verwechseln.
- Unterschlagen werden beispielsweise die statistischen Daten zur  Angleichung des generativen Verhaltens oder zu den Auswirkungen von  Förderung und Erziehung auf Intelligenz und Bildungsleistungen.
- Zweifelhafte Quellen sind extrem umstrittene Arbeiten wie die von  Herrnstein/Murray oder wie die des auf S. 353 zitierten Eugenikers  Richard Lynn.
- Ein Fehlschluss ist, dass die schlechten Bildungsleistungen von  Migranten- oder Unterschichtskindern auf erbliche Intelligenzdefizite  bestimmter Bevölkerungsgruppen zurückzuführen seien. Ein Fehlschluss ist  auch die zentrale These, dass die deutsche Bevölkerung immer dümmer  werden würde, weil die Prämisse, dass die Migranten und  Unterschichtsangehörigen weniger intelligente Erbanlagen hätten, nicht  zutrifft.
Worauf Sarrazin mit seinem Buch abzielt, lässt sich auf Seite 93  lesen. Dort schreibt er, dass die evangelische Kirche seit der  Reformation „die intelligentesten Knaben für die geistliche Laufbahn  ausgewählt“ habe. Da „evangelische Pfarrersfamilien traditionell sehr  kinderreich“ gewesen seien, habe sich diese Auslese darin  niedergeschlagen, dass ein Pool von besonders intelligenten Menschen  gezüchtet worden sei, aus dem sich „ein erstaunlich großer Teil der  deutschen wissenschaftlichen Elite“ rekrutiert habe, während die  katholische Kirche durch den Zölibat die Vermehrung der Intelligenzgene  verhindert habe.
Abgesehen davon, dass diese Behauptungen (wieder einmal) nicht belegt  und im übrigen auch falsch sind (nicht die evangelische Kirche hat  Knaben ausgewählt, sondern häufig wurden die drittgeborenen Knaben von  ihren Eltern in die geistliche Laufbahn entsandt), legt diese Passage  Sarrazins Vorstellung von einem idealen Deutschland offen: Ein  totalitäres System, das Menschen mit ihren Erbanlagen so züchtet, wie  dies Hunde- und Pferdezüchter tun. Das nennt sich „Eugenik“ – der  Erfinder dieses Begriffs, Francis Galton, wird von Sarrazin hoch gelobt  (S. 92f.) – oder auf deutsch „Rassenhygiene“ und diente zur Zeit des  Nationalsozialismus zur Rechtfertigung von Zwangssterilisierungen,  Euthanasie und Völkermord.
Kontakt:
Prof. Dr. Volker Eichener
Rektor der EBZ Business School – University of Applied Sciences
Springorumallee 20, 44795 Bochum
Tel. 0234-9447-700
mobil 0171-69 56 55 0
v.eichener@ebz-bs.de
www.ebz-business-school.de
[1]  http://www.bild.de/BILD/politik/2010/08/23/thilo-sarrazin/deutschland-immer-aermer-und-duemmer.html,  zugegegriffen am 29.8.2010.
 
[2]  http://www.amazon.de/Deutschland-schafft-sich-unser-setzen/dp/3421044309/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1283114738&sr=8-1,  zugegriffen am 29.8.2010.
[3] http://www.amazon.de. Kundenrezensionen zum Buch von Thilo  Sarrazin: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel  setzen. Abgerufen am 28.8.2010.
[4] Nadja Milewski: Fertility of Immigrants. A Two-Generational Approach in Germany. Diss., Heidelberg et. al. 2010, S. 59.
[5] Ebda., S. 98.
[6] Ebda.
[7] Elsbeth Stern/Jürgen Guthke: Perspektiven der Intelligenzforschung. Lengerich 2001, S. 9.
[8] Amelang, M. et al: Differentielle Psychologie und  Persönlichkeitspsychologie. 6. Auflage Stuttgart 2006, S. 463;  Asendorpf, J.: Psychologie der Persönlichkeit. 4.Aufl. Heidelberg 2007.
[9] Jürgen Baumert u. a.: PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Deutsches PISA-Konsortium. Opladen 2001.
[10] Gerhard Roth: Wer oder was bestimmt unser Handeln? Beobachtungen zur Zeit Nr. 7, Warburg, 2006, S. 9.
[11] Herrnstein, Richard/Murray, Charles: The Bell Curve – Intelligence and Class Structure in America. New York 1994.
[12] Alle Zitate nach http://en.wikipedia.org/wiki/The_Bell_Curve, eigene Übersetzung.
[13] Claude S. Fischer, Michael Hout, Martín Sánchez Jankowski,  Samuel R. Lucas, Ann Swidler, & Kim Voss: Inequality by Design:  Cracking the Bell Curve Myth. Princeton 1996.
[14] Korenman, Sanders and Winship, Christopher: A Reanalysis of The Bell Curve”. NBER Working Paper Series, Vol. w5230, 1995.
[15] Heckman, James J.: Lessons from the Bell Curve. Journal of Political Economy 103 (5), 1995, S. 1091–1120.
[16] Ulrich Neisser et al.: Intelligence: Knowns and Unknowns. American Psychologist, February 1996,  S. 95.
[17] Ebda.
[18] vgl. Sander L. Gilman: Die schlauen Juden. Über ein dummes Vorurteil. Berlin 1998.
[19] Sowell, Thomas: Ethnicity and IQ. The American Spectator 28 (2), 1995.
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Ich möchte nochmals betonen daß jedwedes Recht an diesem Text bei der Quelle liegt.